© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/00 07. Januar 2000


Abschied vom 20. Jahrhundert
von Alain de Benoist

as 20. Jahrhundert ist vorbei. Begonnen hatte es eigentlich 1914 mit dem Ersten Weltkrieg; mit dem Fall der Berliner Mauer kam es 1989 zum Abschluß. Was ist über dieses kurze Jahrhundert zu sagen? Daß es das Jahrhundert der enttäuschten Begeisterungen und der zerschellten Träume war? Noch nie in der Geschichte hatte ein Jahrhundert so mobilisiert wie dieses. Noch nie hatte man soviel politischen Eifer gesehen, soviel Verherrlichung der Tat und des Kampfes, soviel Fanatismus auch, im Dienst von so vielen illusorischen Gewißheiten und entschlossenen Willen, eine neue Welt zu schaffen.

Den ersten Teil dieses Jahrhunderts, den der Begeisterungen und Leidenschaften, haben erhobene Arme und geballte Fäuste geprägt und beherrscht – mit Pleiten, Trümmern und Konzentrationslagern als Ergebnis. Man hatte Gott durch profane Absolutheiten abgelöst, durch große Wesenheiten, denen man sein Leben opfern konnte: die Partei, die Klasse, die Rasse, die Revolution. Ein profanes Absolutes ist aber ein Widerspruch in sich. Alles, was die Menschen an die Stelle Gottes gesetzt hatten, brach zusammen – Gott ist übrigens deshalb nicht glaubwürdiger. In der zweiten Jahrhunderthälfte lösten die Interessen die Leidenschaften ab. Es entstand das Reich der Enttäuschungen, der Lügen und der Zweifel.

Das Jahrhundert endet nun in einem seltsamen Gemisch von Gleichgültigkeit und Hysterie. Man hat wahrlich viel Zeit verloren.

Das Ende des 20. Jahrhunderts bedeutet jedoch viel mehr als das Ende eines Jahrhunderts: Zu Beginn des dritten Jahrtausends geht nämlich ein ganzer Zyklus zu Ende. Werfen wir deshalb einen kurzen Blick auf die Geschichte. Die Geschichte des Ancien Régimes, des Absolutismus, ist vor allem die Geschichte des Aufstiegs und der Entfaltung der Bourgeoisie. Diese siegt bei der Französischen Revolution von 1789, indem sie im Namen des Volkes den Adel niederwirft, in Wirklichkeit aber dem Volk einen neuen Herrn gibt. Im 19. Jahrhundert rufen der siegreiche Liberalismus, die zunehmende Bedeutung des Szientismus und des Industrialismus sowie die Entfremdung der Arbeit eine legitime Reaktion hervor: die Geburt der Arbeiterbewegung. Der Sozialismus verrennt sich aber bald in den Marxismus, der die liberalen Anschauungen bestreitet, aber aus denselben Quellen schöpft wie er; der Marxismus erfindet eine neue Form des Despotismus, die diktatorische Politik und ökonomistische Versessenheit miteinander verbindet. Im Jahre 1917 löst die Einführung des Kommunismus in Rußland eine erneute Reaktion aus: Die Faschismen versuchen, die damaligen Spaltungen zu überwinden, was begrüßenswert ist; aber auch sie verirren sich, schließen mit den bürglichen Werten zu oft Kompromisse und verfallen in den irredentistischen Nationalismus, den Militarismus, den Etatismus und den Rassismus. Schließlich brechen die Faschismen unter dem gemeinsamen Vorgehen der liberalen Demokratien und des Stalinismus zusammen. Das kommunistische System geht an sich selbst zugrunde. Zurück zum Ausgangspunkt, zum Startfeld: Das liberale Bürgertum ist immer noch da, und das Volk ist mehr denn je entfremdet.

Dieser zu Ende gehende Zyklus ist der Zyklus der Moderne. Und die Krise der Moderne ist in erster Linie die Krise ihrer Grundlagen: des Glauben an den Fortschritt; der Gewißheit, daß die Wirtschaft das Schicksal sei; der Überzeugung, daß der sich selbst überlassene und von allen Zugehörigkeiten befreite Mensch zwangsläufig glücklicher und besser wäre. Heute macht die Zukunft angst, die Wirtschaft stellt sich als tyrannische Macht heraus, und der "befreite" Einzelne steht wieder allein da, in einer sinnentleerten Welt, verwundbar, ohne Bezugspunkte, verzweifelt. Die Ideologie der Moderne stützte sich auf drei Pfeiler, auf die liberale Demokratie, den kapitalistischen Markt und die Staatsnation. Auch die stecken in der Krise. Die Ausbreitung des kapitalistischen Marktes hat nicht nur weltweit ein sich ständig vergrößerndes Gefälle zwischen den Staaten erzeugt, während in den Industrieländern die Zahl der Ausgeschlossenen ununterbrochen zunimmt; sie hat auch zu einer Globalisierung der Wirtschaft geführt, gegenüber der die Staatsnationen zunehmend ohnmächtig sind. Gleichzeitig macht diese weiträumige Internationalisierung der Handelsaustausche und der Finanztransfers das System anfälliger und läßt mögliche umfassende Funktionsstörungen ahnen. Das Mißtrauen gegenüber den traditionellen politischen Parteien, die Krise der Volksvertretung, der Rücktritt des Staatsbürgers offenbaren die Auslaugung der liberalen Form der Demokratie. Die Wiedergeburt der kollektiven Identitäten zeigt, daß die Staaten, die künftig weder dem Föderalismus noch dem Prinzip der kulturellen Eigenständigkeit zustimmen werden, zu Konflikten ohne Ende verurteilt sind.

Wenn der Zyklus der Moderne zu Ende geht, dann müßte im kommende Jahrhundert etwas Neues entstehen. Das 21. Jahrhundert wird zunächst das Jahrhundert der immateriellen Ströme sein: Ströme in den Bereichen Kommunikation, Finanzen und Technologie, die sich von einem Ende der Welt zum anderen in "Null-Zeit" übertragen. Es wird auch das Jahrhundert des amerikanischen Untergangs und der zunehmenden Bedeutung der "neuen" Staaten China, Rußland, Indien, Iran und Ägypten sein. In die Enge getrieben, wird Europa erneut seinem Schicksal begegnen müssen. Und Kriege einer noch nie dagewesenen Form werden stattfinden. Die große internationale Konfrontation, die die "universalen" Ansprüche der westlichen Werte herunterschrauben wird, läßt sich nicht vermeiden.

Schon jetzt ist die Internationalisierung der Problematiken eine Tatsache. Die Erinnerung an das vergangene Jahrhundert kann wohl vergebliche Sehnsüchte nähren; es geht schon nicht mehr darum zu wissen, wie der Anbruch einer neuen Weltordnung zu verhindern sei, sondern, wie diese Ordnung beschaffen sein und welches unter den miteinander konkurrierenden Projekten einer neuen Weltordnung siegen wird. Es gilt zu wissen, ob eine Neuorganisation und Harmonisierung der lebendigen Gemeinschaften gelingen kann oder ob die Dampfwalze der vereinheitlichenden Globalisierung die Vielfalt der Kulturen und der Völker für immer platt machen wird. Einerseits die Wirtschaft, die Finanz und die Technologie. Andererseits die politischen und religiösen, kulturellen und sozialen Widerstandskräfte. Mit – im Augenblick – vier wesentlichen Fragen. Wie ist die soziale Bindung wiederherzustellen, wenn man weiß, daß das Wirtschaftliche sie zerstört und das Politische nie genügt, sie herzustellen? Welcher Ausweg führt aus der sogenannten "Zivilisation der Arbeit", wenn die Arbeit nicht mehr der alleinige Träger der sozialen Integration sein wird? Wie ist eine Basisdemokratie einzurichten, die auf der Beteiligung aller am öffentlichen Leben aufgebaut ist, das heißt auf einem Wiederaufleben der Staatsbürgerschaft? Und schließlich: In welche Welt führen uns die Computersimulationen, die "virtuellen Realitäten", die den täglichen Rahmen unseres morgigen Lebens bilden werden?

Die heutige Gesellschaft löst sich auf. Da sie nichts Neues gebiert, verbraucht sie ihre ganze Geschichte. Sie stößt an ihre eigenen Grenzen. Gewöhnlich spricht man hier von Dekadenz. Es wäre besser, von Abschaffung zu sprechen. Und auch von Nihilismus – wobei zu bedenken ist, daß der Nihilismus nicht nur das Chaos bezeichnet, daß er sowohl Auflösung und verheißungsvolle Aussicht, sowohl Auseinanderfallen und Ankündigung einer neuen Zusammensetzung ist. Der Nihilismus, sagt Ernst Jünger, ist jener Zeitpunkt am Ende eines Zyklus, an dem sich eine neue Ordnung bereits weitgehend festgesetzt hat, ohne daß die dieser Ordnung entsprechenden Werte schon sichtbar sind.

Gerade Ernst Jünger ist ein Symbol für dieses Jahrhundert, ein Mann, der ein ganzes Jahrhundert erlebt hat, das durch die bemerkenswerte und tragische Reihenfolge des Soldaten, des Arbeiters, des Rebellen und des Anarchen gekennzeichnet war. Man sollte seiner Stimme Gehör schenken, die für das kommende Jahrhundert den Endkampf zwischen den Göttern und den Titanen ankündigt.

In "Über den Schmerz", erschienen 1934 in "Blätter und Steine", schrieb Jünger, daß wir uns in der Situation von Reisenden befinden, die lange Zeit auf einem vereisten See marschiert sind, dessen Oberfläche infolge einer Temperaturänderung rissig wird. Der oberflächliche Teil der allgemeinen Ideen beginnt zu zerbröckeln, während die Tiefe des seit jeher vorhandenen Elements durch die Spalte und die Risse dunkel funkelt.

Im "Gordischen Knoten" (1953) schrieb er ebenfalls, "daß der Kampf zwischen den alten und den neuen Reichen diesseits und jenseits des gordischen Kontens, zwischen der Erdmacht und dem freien Lichte stets unentscheiden bleiben wird. Er wird nicht zwischen Bildern und Idolen, nicht zwischen Ländern, Völkern, Rassen und Kontinenten im Letzten ausgetragen, sondern im Unvermeßbaren des Menschen, in seinem Innersten".

 

Alain de Benoist ist Herausgeber der Zeitschrift Elements und einer der Vordenker der französischen Neuen Rechten ("Nouvelle Droite")


 
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