© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/00 14. Januar 2000

 
Rußland: Wolfgang Seiffert sieht juristische Chance für großen Schuldenverzicht
"Moskau könnte entgegenkommen"
(JF)

Der russische Staat und russische Unternehmen sind in Deutschland hoch verschuldet. Fast 50 Milliarden Mark sind es laut Moscow Times, annähernd 80 Milliarden nennt das Wirtschaftsministerium in Berlin. In der andauernden Diskussion um die Rückzahlung werden neue Argumente vorgebracht. Ein juristisches Argument soll Rußlands Schulden halbieren. Als "völlig legitim" bezeichnet Professor Wolfgang Seiffert vom Zentrum für Deutsches Recht in Moskau die russischen Vorstellungen.

Auf der letzten Sitzung der im Londoner Club vereinten privaten Gläubiger Rußlands hat die Moskauer Delegation erstmals um eine Streichung eines erheblichen Teils der russischen Schulden ersucht. Auf welches Argument kann sich die Forderung stützen?

Seiffert: Das Neue daran ist, daß Rußland seine Verbindlichkeiten nicht mehr nur umschulden, also auf diverse neue Zeiträume verteilen möchte, sondern daß man jetzt verlangt, einen Teil der Schulden überhaupt zu streichen. Bisher hat das Rußland zu meinem Erstaunen nicht gefordert, obwohl es dafür eine tragfähige Rechtsgrundlage und seit längerer Zeit schon eine entsprechende Rechtsprechung in Deutschland und England gibt. Außerdem waren sowohl der neue Finanzminister Kasjanow als auch sein Amtsvorgänger Sadornow und auch der Ministerpräsident Putin über diese Problematik zumindest informiert.

Wenn es für die Forderung des teilweisen Schuldenerlasses eine Rechtsgrundlage gibt, warum hat man dann bisher gezögert?

Seiffert: Ich hatte den Eindruck, daß man glaubte, ein so großes Land, noch dazu mit dem Anspruch einer Weltmacht, dürfe solche Forderungen nicht stellen, das sei sozusagen unter seiner nationalen Würde. Das ist aber Nationalstolz am falschen Platz, denn Vertragsanpassungen aus besonderen Gründen, in Ausnahmezuständen, sind durchaus üblich. Besondere Umstände herrschen in Rußland schon seit längerer Zeit, zumindest seit dem 17. August letzten Jahres, dem sogenannten Rubel-Crash. Ein Ausnahmezustand gilt unter anderem als gegeben, wenn der Verfall der nationalen Währung oder die Inflation mehr als 60 Prozent betragen. Beides wird in Rußland bei weitem überboten, und insofern sind die Voraussetzungen für eine Anpassung bestehender Kreditverträge gegeben.

Angeblich gibt es dazu ein Rechtsgutachten von deutscher Seite.

Seiffert: Ein Gutachten einer Berliner Juristin, auf das man sich jetzt bezieht. Dieses Gutachten ist überzeugend. Aber solche Gutachten liegen der russischen Seite ja schon lange vor. Ich habe mich immer gewundert, warum man darauf nicht reagiert hat. Erst als sich vor kurzem der Vizevorsitzende des russischen Haushaltsausschusses dazu in der Moscow Times äußerte, hat man von Seiten des russischen Finanzministers reagiert.

Wer macht sich in Rußland zum Sprecher für dieses Argument?

Seiffert: Finanzminister Kasjanov hat auf der jüngsten Tagung des Londoner Clubs mit seiner Delegation diese Forderung das erste Mal vorgetragen. Er hat eine Streichung von 40 Prozent der bestehenden Schulden verlangt. Unverständlich, daß er nicht, wie die Rechtssprechung es möglich macht, 50 Prozent verlangt hat. Sein Vorgänger hat ihn deswegen am 17. November in der Moscow Times kritisiert und entsprechend die 50 Prozent gefordert.

Also kann Rußland ganz legal seine Schulden halbieren?

Seiffert: Man muß hier ganz strikt unterscheiden zwischen den privaten Kreditverhältnissen und den staatlichen. Bei den privaten Krediten ist die Vertragsanpassung tatsächlich etwas ganz Normales, wie die deutsche und die englische Rechtsprechung zeigen. Wenn der Kreditnehmer durch Umstände, die er nicht zu verantworten hat und die beide Seiten nicht voraussehen konnten, in außergewöhnliche Schwierigkeiten kommt, dann ist der rechtlich begründete Anspruch da, eine Reduzierung zu verlangen. Das ist ein akzeptierter Rechtsstandpunkt, den jede Seite vertreten kann. Bei der jüngsten Verhandlung bei der Deutschen Bank in Frankfurt, die der Konsortialführer der deutschen Kreditgeber ist, hieß es, daß von russischer Seite etwa zwölf Milliarden Dollar Streichung geltend gemacht werden. Diese Verhandlungen werden weiter- und sollen zu Ende geführt werden.

Und wie ist das mit den staatlichen Krediten?

Seiffert: Ich frage mich, warum Rußland immer wieder auf solche Kredite erpicht ist. Es verschuldet sich nur immer weiter, schafft die inneren Probleme aber nicht aus der Welt. Im Grunde handelt es sich dabei oft um nicht mehr als um einfache Umbuchungen. Aber in der Wirtschaft ändert das überhaupt nichts.

Es geht ja aber auch um die Übernahme der Altschulden der ehemaligen Sowjetunion durch Rußland.

Seiffert: Bei den staatlichen Schulden ist die Sache nicht ganz so einfach wie bei den privaten, denn da kommt zumeist Völkerrecht zur Anwendung und nicht Zivilrecht. Im Völkerrecht gibt es zwar parallel dazu wohl den Grundsatz der Clausula rebus sic stantibus, der veränderten Vertragsumstände, die man nicht voraussehen konnte. Aber es gibt keine so ausgeprägte Rechtsprechung. Die Sache ist also juristisch wesentlich komplizierter. Aber nicht aussichtslos, wenn man zum Beispiel daran denkt, daß Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul gefordert hat, alle Schulden der armen Länder zu streichen. Man kann in Moskau durchaus auf die Idee kommen, das könne auch für Rußland gelten.

In der Behandlung der Schuldenfrage spiegelt sich auch das deutsch-russische Verhältnis.

Seiffert: Gewiß. Eine Rolle spielt aber auch die widersprüchliche Haltung Deutschlands. Deutschland betrachtet Rußland als den alleinigen Schuldner aller Altschulden der früheren Sowjetunion. Gleichzeitig weigert sich das Auswärtige Amt, die Erklärung abzugeben, daß ausschließlich Rußland als Rechtsnachfolger in das Immobilienvermögen der früheren Sowjetunion auf deutschem Territorium eintreten kann. Hier setzt sich Deutschland in einen Widerspruch zu sich selbst. Ich halte es für erforderlich, daß Rußland nicht nur alleiniger Schuldner hinsichtlich der Auslandsschulden der früheren Sowjetunion, sondern auch Eigentümer der Aktiva geworden ist. Wenn das erreicht ist, sehe ich eigentlich kein so großes Problem mehr. Es kostet die deutsche Seite ja zunächst gar nichts. Die andere Frage muß dann im Pariser Club gelöst werden.

Voraussetzung ist also eine Portion guter Wille von beiden Seiten. Was könnte Rußland tun?

Seiffert: Rußland könnte sich zum Beispiel trotz des Gesetzes und der Entscheidung des russischen Verfassungsgerichtes zu den sogenannten Beute-Kulturgütern dazu durchringen, sich entgegenkommend zu zeigen. Dazu lassen sowohl das Gesetz als auch die Gerichtsentscheidung genügend Raum.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert 1926 in Breslau geboren, studierte an der Ost-Berliner Humboldt-Universität Jura. Von 1967 bis 1978 leitete er das Institut für ausländisches Recht und war zeitweise Vizepräsident der Gesellschaft für Völkerrecht der DDR. Nach seiner Aussiedlung 1978 lehrte er an der Universität Kiel, wo er bis 1994 Direktor des Instituts für Osteuropäisches Recht war. Heute ist Seiffert Generalsekretär des Zentrums für Deutsches Recht im Institut für Staat und Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen