© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/00 14. Januar 2000

 
Pankraz,
der Strichjunge und der neue Berliner Ernst

In Berlin wollen die Yuppies und Groupies nicht mehr ironisch sein. "Schluß mit der ewigen Ironisiererei", hört man allenthalben zwischen Hackeschen Höfen und Schaubühne, "im neuen Jahrtausend wird ernst gemacht, und zwar todernst". Man kommt sich bei solchem Reden furchtbar wichtig vor, aber der Zuhörer merkt schnell, daß überhaupt nichts passiert ist. Es geht um dieselben Wörter und Gesten wie bisher, nur heißt eben das, was früher "Ironie" hieß, ab sofort "Ernst", und manchmal gibt es dazu eine tragisch-entschlossene Miene, die eher zum Lachen reizt. Die Leute machen ernste Gesichter, aber die Szene im Ganzen, von außen betrachet, trieft geradezu von Ironie.

"Ironie", sagt Schopenhauer, "ist der Scherz, der sich hinter dem Ernst versteckt." Aus dem Blickwinkel dieser Definition wird die Berliner Szene erst jetzt, da sie Ernst machen will, wahrhaft ironisch. Freilich ist es eine gleichsam objektive Ironie, die mit ihren Protagonisten spielt, indem sie sie in Pappnasenträger eines Kasperle-Theaters verwandelt. Der Scherz liegt nicht in dem, was der Pappnasenträger sagt und meint, sondern in der Differenz des Gesagten und Gemeinten zu dem, was wirklich ist. Je ernster die Pappnase etwas meint, um so größer die Distanz zur Wirklichkeit.

Der wahre Ironiker (Vorbild: Friedrich Schlegel) meint es immer ganz ernst, nur weiß er (oder kriegt bald mit), daß der Ernst selber eine komische Sache ist. Was wir auch anpacken, wir greifen letztlich immer daneben, die Welt entzieht sich uns. Am Ende steht der totale Entzug, nämlich der Tod, ein Ereignis von monumentaler Komik. Das Leben und das Nachenken über das Leben, das Philosophieren, das Dichten, das Kunstmachen – sie sind immer ein Totlachen im buchstäblichen Sinne, und das, so fordert der Ironiker, gilt es in den Texten und Kompositionen und Installationen überzubringen.

Der junge Friedrich Schlegel sagt: "Sowie der Mensch ans Dasein tritt, wird er mit dem Schicksal gleichsam handgemein, und sein ganzes Leben ist ein steter Kampf auf Leben und Tod mit der furchtbaren Macht, deren Armen er nie entfliehen kann. Man könnte die Geschichte der Menschheit, welche die ursprüngliche Genesis und die notwendigen Fortschritte der menschlichen Bildung charakterisieren soll, mit militärischen Jahrbüchern vergleichen. Sie ist der treue Bericht von dem Kriege der Menschheit mit dem Schicksal."

Bald kam ihm diese seine Rhetorik allzu militärisch vor. Er sah die Möglichkeiten der Ästhetik als eines Instruments des gediegenen Sich-erleichtern-Könnens in bleihaltiger Lage. Es ging nicht darum, sich in seichter Weise über den Ernst der Situation hinwegzulügen, flache Witze darüber zu reißen, sondern um die Entdeckung und sprachliche (semiotische) Kenntlichmachung jener Differenz zwischen Wollen und Wirklichkeit.

Eben das erzeugte den ironischen Ton: daß man sich voll auf die Wirklichkeit einließ und trotzdem eine Distanz zu ihr hielt, die notwendig war, um nicht in Blamage und Beschämung zu fallen, nicht "objektiv" ironisch zu werden. Subjektive, praktizierte Ironie war große Kunst. Man mußte genau die richtige Tonhöhe und Klangfarbe treffen. Andernfalls wurde man entweder larmoyant oder zynisch oder schlicht albern.

Soweit Pankraz sieht, ist in Berlin keiner der zur Zeit dort untergebrachten Ereigniskünstler in der Lage, dem hohen Anspruch der Schlegelschen "romantischen" Ironie gerecht zu werden. Insofern ist die jetzt propagierte "Rückkehr zur Ernsthaftigkeit" wenigstens ehrlich. Man nimmt Frontverkürzung vor, räumt freiwillig Positionen, die man unterm Anprall der Wirklichkeit sowieso nicht halten könnte.

Jeder Theaterbesucher weiß nun also, daß die Leute es furchtbar ernst meinen, wenn sie etwa auf der Bühne aufgeschlagene Hühnereier aus Klosettschüsseln trinken oder mageren Strichjungen mit abgebrochenen Flaschenhälsen im Hintern rumpopeln. Da ist kein Gran ironischer Absicht mehr drin, keine grelle Verhöhnung biederer Bildungsbürger (die es ja auch längst nicht mehr gibt), keine Parodie auf die Unterhaltungsgags des Fernsehens, kein Sichlustigmachen über den eigenen Theaterbetrieb, sondern nur noch Ernst, Ernst und immer noch einmal Ernst.

Aber was für eine Wirklichkeit wird mit solchen Szenen angepeilt? Vom "Kampf der Menschheit mit dem Schicksal" kann darin wohl keine Rede sein, in militärische Jahrbücher finden sie keinen Einlaß, dafür wirken sie viel zu etappenmäßig, viel zu rückwärtig, es gibt dort gar keine Front mehr, höchstens einen Schwarzmarkt, auf dem mit billiger Marketenderware gefeilscht wird.

Man muß sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß das gegenwärtige Berliner Geistesleben weder in Sachen Ernst noch in Sachen Ironie etwas zu bieten hat, auch und gerade in seinen sogenannten Avantgarden nicht. Es sind zu viele bloße Mitläufer und Standort-Absahner unterwegs. Alles ist Routine, leerlaufende Pseudoprovokation, Wiederaufwärmen uralter Kamellen, bestenfalls pompöse Repräsentation. Um die wirklichen Novitäten, Probleme und Provokationen macht man einen vorsichtigen Bogen.

Vielleicht sollte man es doch einmal mit richtiger, anspruchsvoller Ironie versuchen. Diese eignet sich u.a. vorzüglich zum Wegelegen, zur Klima-Massage, zum Ausprobieren neuartiger Gedankenkonstellationen und Diskursebenen. Man kann als Ironiker sehr gut aus der Deckung heraus operieren, und auch ein keckes, husarenmäßiges Taktieren wird erleichtert: blitzschnelles Vorstoßen tief ins feindliche Hinterland, blitzschnelles Sichwiederzurückziehen. Die Dinge fangen dabei oft an, eigentümlich zu funkeln und unerwartete Aspekte preiszugeben. Wenn es wirklich ernst wird, herrscht dann meistens wieder Grau in Grau.


 
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