© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/00 14. Januar 2000

 
Horst Möller (Hrsg.): Der rote Holocaust und die Deutschen
Ein erzwungener Hungertod
Kenneth Lewan

Nach dem Erscheinen des "Schwarzbuches des Kommunismus" haben sich zahlreiche bewegte Stimmen der Zustimmung und des Widerspruchs erhoben. Der von Horst Möller herausgegebene Band "Der rote Holocaust" beinhaltet eine Auswahl der Beiträge, die zu diesem Gegenstand in Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind. Damit hat der Leser ein ausgezeichnetes Mittel, die umstrittensten Aussagen in dem Buch zu verstehen und zu beurteilen.

Die Verfasser des "Schwarzbuches" untersuchten alle kommunistischen Länder unter einem Gesichtspunkt, nämlich dem Ausmaß der planmäßigen Tötung von Unschuldigen. Der Herausgeber, Stéphane Courtois, faßte die Ergebnisse im Vorwort zusammen: 80 bis 100 Millionen Menschen sind ermordet worden. Diese Zahlen seien zum Teil gesichert, wie im Falle der Sowjetunion, und zum Teil geschätzt, wie im Falle Chinas. Über diese Feststellung hinaus zog Courtois einen Vergleich mit dem Massenmord im Dritten Reich. "Hier sind sich Rassen-Genozid und Klassen-Genozid sehr ähnlich." Courtois bezeichnet "Auschwitz", die industrielle Vergasung, als "einzigartig", aber Einzigartigkeit heißt für ihn nur Eigenartigkeit und nicht "das Schrecklichste". Auch viele kommunistische Diktaturen hätten eine "Besonderheit", nämlich den systematischen Einsatz des Hungers als Waffe.

Da Courtois nicht bereit war, "Auschwitz" als schlimmer als den millionenfachen Massenmord in kommunistischen Ländern zu deuten, sind manche auf die Barrikaden gestiegen. Sie führten mehrere Gründe für ihre Empörung ins Feld. Erstens: Die Tötungsweise des Nationalsozialismus – eine fabrikmäßig organisierte Vergasung – wäre das Allerschrecklichste. Doch, ob die eine oder die andere Tötungsweise schlimmer ist, ist Ansichtssache. Es handelt sich hier um eine nicht überprüfbare Aussage. Man könnte ebensogut meinen, der Hungertod wäre schlimmer als die Vergasung.

Zweitens: Die Grundeinstellungen und Ziele – die Ideologien – des Nationalsozialismus und des Kommunismus seien völlig unterschiedlich. "Am Anfang des Nationalsozialismus steht der Menschenhaß. Am Anfang des Kommunismus steht die Menschenliebe." (S. 40) "Völkermord ist ein Bestandteil des Nationalsozialismus." (S. 39) Es gäbe einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Kommunismus, "der Leute ermordete und ausgerottet hat, um sein Projekt durchzusetzen, und einem System, dessen Projekt es war, Leute zu ermorden und auszurotten." (S. 184) "Man kann sich einen Nationalsozialismus ohne Gaskammer nicht vorstellen, aber ein Kommunismus ist ohne Lager denkbar." (S. 27/28)

Diese Aussagen sind nicht näher ausgeführt worden – weder in Bezug auf den Kommunismus noch den Nationalsozialismus. Um sie zu überprüfen, wollen wir zuerst Aussagen von Hitler heranziehen, der als Ideologieträger des Nationalsozialismus ausschlaggebend war. Er vertrat eine Geschichtsauffassung, derzufolge die Arier-Germanen die Bestimmung hätten, in kultur- und staatsbildenden Angelegenheiten weiter zu wirken und sich zu entwickeln. Um zur Entfaltung zu gelangen, seien gegnerische Kräfte nötig, die Widerstand und einen Anreiz brächten. Die Juden stellten den Gegenwurf zu den Ariern dar. Sie seien zerstörerisch und müßten bekämpft werden. Aufgrund dieser Geschichtsauffassung schließt Frank-Lothar Kroll in seiner Untersuchung "Utopie als Ideologie" (Paderborn 1988), daß Hitler "fraglos intendierte", die Juden zu vernichten. Doch hat Hitler bei den Darstellungen seiner Geschichtsauffassung nirgendwo erklärt, was er im Falle eines Endsieges mit den Juden tun würde. Und Näheres folgt nicht aus seiner Sicht von Geschichte. Von seiner Aussage "etwas Schlechtes muß da sein, um das Gute zu reizen", könnte man schließen, daß er die Wechselwirkung mit Juden weiter für notwendig hielt, um die Sendung der Arier zu stützen, auch wenn die Juden auf irgendeine Weise unterjocht werden sollten.

Im Januar 1939, als Hitler Grund hatte, einen Zweifrontenkrieg zu befürchten, sagte er in einer Rede: "Wenn es dem internationalen Finanzjudentum gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa." (Zitiert in Jersak, Kriegsverlauf und Judenvernichtung, Historische Zeitschrift, April 1999). Im Januar 1941 hieß es: Wenn "die andere Welt" (die USA, K.L.) "von dem Judentum in einen allgemeinen Krieg gestürzt wird, wird "das gesamte Judentum seine Rolle in Europa ausgespielt haben." (Ebenda, S. 319) Das waren scharfe Warnungen, allerdings keine vorbehaltlosen Willenserklärungen.

Einige Streiter für die Courtois-Auffassung weisen auf Bekundungen von Marx und Engels als Träger der kommunistischen Ideologie hin. Ihre Menschenliebe sei nicht ungeteilt, sie hätten für Teile aller Gesellschaften gefahrvolle Maßnahmen angeregt. Sie forderten eine Diktatur, die schrankenlose Herrschaft des Proletariats und damit die Unterdrückung der Bürgerlichen. Darüberhinaus forderten sie die Unterjochung von "reaktionären" (meist slawischen) Völkern. So Engels: Die nichtfortschrittlichen Länder "haben zunächst die Mission, im revolutionären Weltsturm unterzugehen". Marx lobte die Pariser Kommune, die Massenmord begangen hatte, als "ruhmvollen Vorboten einer neuen Gesellschaft". Die Grundeinstellungen und Ziele, die die Kommunisten und Nationalsozialisten vor der Oktoberrevolution bzw. nach Beginn der deutschen Eroberungsfeldzüge bekundeten, waren also nicht grundverschieden. Die "Idee" des Kommunismus war auch nicht astrein. Beide machten gefahrenträchtige Aussagen, allerdings auf unterschiedliche Feinde gerichtet.

Aber gesetzt den Fall, die Ideologie des Kommunismus, im Gegensatz zu der des Nationalsozialismus sei lobenswert, folgt dann, daß mildernde Umstände für den millionenfachen Massenmord in kommunistischen Ländern vorliegen? Auch wenn die Zahl der Ermordeten dort weitaus höher war, als in "Auschwitz"? Allein die Zahl der umgebrachten Bauern in der Sowjetunion war höher. Nicolas Werth hat in seinem gut belegten Beitrag über die Sowjetunion im "Schwarzbuch" dargelegt, daß in den Jahren 1921/22 mindestens fünf Millionen Bauern und ihre Familien den erzwungenen Hungertod erleiden mußten. 1932/33 waren es mehr als sechs Millionen in der Ukraine. Zu schließen, daß der Kommunismus trotz des Massenmordes weniger schrecklich war, weil die Idee gut sei, ist reiner Subjektivismus.

Drittens: Die Ermordung der Juden – in einem Beitrag heißt es "der Juden und Roma" – sei das schlimmste Verbrechen überhaupt, weil alle in der Bevölkerungsgruppe umgebracht werden sollten. "Denn kein Jude, in manchen besetzten Gebieten auch kein Roma, sollte am Leben bleiben." (S. 87/88) Das Ziel war "eine Bevölkerungsgruppe aus ideologischen Motiven restlos und ohne jede Ausnahme auszulöschen, gleichwie deren Mitglieder sich verhalten." (S. 205) Es war "der Versuch, einen möglichst lückenlosen Völkermord zu vollbringen". (S. 107) Ob die Ermordung aller Juden beabsichtigt war, wissen wir nicht. Schon die Tatsache, daß die Konzentrationslager in Deutschland, wo Juden zahlreich eingesperrt waren, keine Tötungslager waren, spricht dagegen. Aber auch wenn eine solche Absicht bestanden haben sollte, folgt nicht, daß dieser Massenmord der allerschlimmste gewesen sein muß. In einem der Beiträge des Buches wird darauf hingewiesen, daß auch die Bauern in der Sowjetunion, die einem erzwungenen Hungertod erlagen, keine echte Wahl gehabt haben. Es begann damit, daß der Staat so viel von der Ernte forderte, daß die Bauern sich mit dem Rest nicht hätten ernähren können. Der Staat wollte Getreide ausführen, um Geld für Investitionen zu bekommen. Die Bauern hielten einige Lieferungen zurück, worauf die gesamte Ernte weggenommen wurde. Die Bauern durften nicht in die Städte ausweichen und sie hatten kein Geld für Lebensmittel. Mag sein, daß die kommunistischen Täter nicht jeden Bauern umbringen wollten. Aber angesichts der Tatsache, daß auch die Bauern keinen Ausweg hatten und noch zahlreicher umgebracht wurden, als die Juden, Roma und Sinti, ist der Schluß, daß "Auschwitz" noch schlimmer war, ein hinlänglicher Beleg für fehlendes Augenmaß.

 

Horst Möller (Hrsg): Der rote Holocaust und die Deutschen, Piper Verlag, München 1999, 249 Seiten, 29,80 Mark


 
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