© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/00 14. Januar 2000

 
Rechte auch für Tiere
von Holger Schleip

Es ist eigenartig: Wenn es um Leben und Tod geht, schwören fast alle Menschen auf das Abstammungsprinzip, und zwar auch diejenigen, die sich über dieses Prinzip mokieren, solange es (nur) um Fragen wie Staatsbürgerschaft geht. Nur so ist zu verstehen, weshalb zwar das Töten eines menschlichen Säuglings oder eines im Morbus-Alzheimer-Spätstadium vor sich hindämmernden Menschen einhellig verurteilt wird, das Töten eines schlachtreifen Mastschweines oder eines Versuchskaninchens hingegen als zweckmäßig gesellschaftlich akzeptiert wird.

Fragt man einen Schlachter oder einen Tierexperimentator nach der Legitimität seiner Opfer-Auswahl, erhält man meist Antworten wie "ein Mensch ist ein Mensch, und ein Tier ist ein Tier" – was zutrifft, aber argumentationslogisch mit der Berechtigung des Tötens so wenig zu tun hat wie "ein Weißer ist ein Weißer, und ein Schwarzer ist ein Schwarzer" mit der Berechtigung des Sklavenhandels.

Unterschiedliche Auffassungen bestehen darüber, was als Mensch und was nur als Zellhaufen zählt, ob man schon mit der Zeugung durch zwei Menschen zum Menschen wird oder erst mit der Geburt durch einen Menschen.

Unstrittig ist hingegen, daß jedes geborene Kind ein Mensch ist und somit Anspruch auf Menschenrechte hat; und wenn es mit einem Hirnschaden geboren wird derart, daß es nie die für einen gesunden erwachsenen Schimpansen typische "Höhe der geistigen Entwicklung" erreichen kann, dann gilt es als besonders förderungsbedürftig. Ein Schimpansenkind hingegen bleibt zeitlebens Schimpanse und kommt nie in den Genuß von Menschenrechten, auch wenn es sich in diversen Bewußtseinstests noch so gewitzt verhält.

Der nach der Rasse nächsthöhere biologische Ordnungsbegriff ist die Spezies. Demgemäß führte Anfang der siebziger Jahre der englische Tierrechtler und Ex-Tierexperimentator Richard Ryder den Begriff "speciesism" analog zu "racism" ein.

Hinsichtlich des Umganges mit anderen Individuen gilt: Für Nationalisten ist wichtig, ob das betreffende Individuum derselben Nation angehört; für Rassisten, ob das Individuum der eigenen Rasse angehört; und für uns Speziesisten, ob das Individuum unserer Spezies angehört oder nicht. "Deutschenrechte" (zum Beispiel uneingeschränktes Aufenthaltsrecht in Deutschland) spielen von Jahr zu Jahr eine geringere Rolle, und "Weißenrechte" gibt es nur noch versteckt. "Menschenrechte" hingegen definieren heute gut und böse, bis hin zur Rechtfertigung von Angriffskriegen.

Daß "der Mensch" gegenüber "den Tieren" sich durch ein höheres Bewußtsein auszeichne, gilt für die Spezies Homo sapiens gegenüber allen anderen Tierarten, aber nicht für jeden individuellen Menschen gegenüber allen anderen individuellen Tieren. Die Plausibilität der Menschenrechts-Idee beruht wesentlich auf einem rhetorischen Trick: Es wird geschickt die Doppeldeutigkeit des Wortes "Mensch" (mal Spezies, mal Individuum) ausgenutzt.

Der Menschenrechts-Begriff ist einerseits betont individualistisch, weil er nur Rechte von Individuen beschreibt (Menschenrechte betreffen zum Beispiel das Sterben von Menschen, aber nicht das Aussterben der Menschheit), andererseits betont gemeinschaftsfixiert, da er Privilegien all derer, die zur Gemeinschaft "Menschheit" gehören, verteidigt gegenüber denjenigen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören.

Die Tierrechtsbewegung versteht sich historisch als konsequent denkendes Kind der Menschenrechtsbewegung und versucht, die "Gemeinschaft der Gleichen" von "alle Menschen" auf "alle Tiere" auszudehnen – wobei "Tiere" nicht streng zoologisch zu verstehen ist, nicht über den Stoffwechsel definiert wird, sondern über das Empfindungsvermögen. Allen derartigen, man könnte vielleicht sagen: Erlebewesen werden Interessen etwa im Sinne von Mehrung des Glücks und Minderung des Leids zugesprochen.

Als Aufgabe der Ethik gilt es, allen Tieren bzw. deren Interessen gleich gerecht zu werden, ohne Ansehen von ethisch irrelevanten Merkmalen wie zum Beispiel Abstammung.

Anders als Menschenrechtler sehen Tierrechtler dabei keinen Anlaß, Homo sapiens begrifflich aus dem Tierreich auszugliedern. Der Satz "Tierschutz ist auch Menschenschutz" wird so wahrer als gemeinhin angenommen.

Dem "alle Menschen sind gleich" des Menschenrechtlers entspricht formal das "alle Tiere sind gleich" des Tierrechtlers. Inhaltlich jedoch zeigt sich eine wesentliche Gewichtsverlagerung: Tierrechtler bemühen sich, Bedürfnisse, Interessen und Rechte verschiedener Individuen gleichzusetzen, aber nicht so sehr, Individuen gleichzusetzen. Ihr normatives Gleichheitsprinzip ist abstrakter als das der Menschenrechtler. Dies erlaubt einen gelasseneren Umgang mit faktischen Ungleichheiten. Tierrechtler müssen sich weniger bemühen, faktische Ungleichheiten ihrer Schützlinge als nur unbedeutend oder von der Gesellschaft verschuldet wegzudiskutieren bzw. abzuschaffen.

Was dem Menschenrechtler der Rassismus, ist dem Tierrechtler der Speziesismus. Während aber Jutta Ditfurths Aussage "Die Annahme, es gäbe Rassen, ist rassistisch" (soll heißen: abgrundtief böse) die Gefühlslage vieler Menschenrechtler recht gut widerspiegelt, würden Tierrechtler ein entsprechendes "die Annahme, es gäbe Arten, ist speziesistisch" doch als wirklichkeitsfern empfinden.

Jeder Tierheim-Mitarbeiter weiß, daß es klug ist, Hunde und Katzen in getrennten Gehegen unterzubringen, und daß es ideologisch borniert wäre, derartige "Diskriminierungen" zu ächten und gegen die dann auftretenden Gewalttätigkeiten mittels mehr Überwachung und Bestrafung vorgehen zu wollen.

Hieraus Lehren für das Zusammenleben zwischen Menschen ziehen zu wollen, muß keine "Gleichsetzung von Menschen mit Tieren" bedeuten. Inwieweit Menschengruppen sich "lammfromm" oder "wie Hund und Katz" verhalten und wie lernfähig sie sind, läßt sich besser aus Beobachtungen von Menschen ableiten als aus Beobachtungen von Lämmern, Hunden und Katzen. Was allerdings für Menschen und andere Tiere gleichermaßen gilt, ist der Grundsatz, daß nicht nur eine Überinterpretation von Unterschieden zu ethischen Fehlschlüssen führen kann, sondern auch ein Nicht-Wahrhaben-Wollen von Unterschieden und Abgrenzungsbedürfnissen; und daß dies nicht nur für Individuen gilt, sondern auch für Lebensgemeinschaften.

Von der Frage, welche Individuen (gleiche) Rechte zugesprochen bekommen, ist zu unterscheiden die Frage, welche von mehreren unter Umständen konkurrierenden Rechten wie sehr betont werden, und ob das Bild vom emanziperten Individuum oder das Bild vom Individuum als Sozialwesen überwiegt. Und ob neben Individual-Rechten vielleicht auch Rechte von Gemeinschaften anerkannt werden.

Daß zum Beispiel das Ausgrenzen fremder Menschen aus der eigenen Wohnung ein unantastbares Menschenrecht ("Unverletzlichkeit der Wohnung") darstelle, ein Abschotten des Siedlungsgebietes der eigenen Nation gegen Einwanderung hingegen eine zu überwindende Fremdenfeindlichkeit, ergibt sich aus der Menschenrechtsidee nur in Verbindung mit einem betont individualistischen Menschenbild.

Ein Recht von Individuen, sich nicht nur für ein langes Leben der eigenen Person, sondern auch für ein langes Leben des eigenen Volkes, der eigenen Rasse oder der eigenen Spezies einzusetzen, paßt prinzipiell sehr gut sowohl in das Menschenrechts- als auch in das Tierrechts-Konzept, steht allerdings, jedenfalls was die beiden ersteren anbelangt, derzeit nicht hoch im Kurs, zumal wenn entsprechende Bestrebungen sich fremdenfeindlich artikulieren.

Vorstellungen dahingehend, daß nicht nur Individuen, sondern auch Gemeinschaften selbst Rechte haben, und daß zum Beispiel Völkermord oder Artenausrottung einen Frevel darstelle, der über das damit einzelnen Individuen angetane Unrecht hinausgeht – solche Vorstellungen passen zwar gut in ein biozentrisches Weltbild, stoßen sich jedoch mit dem sowohl in der Tierrechtsbewegung als auch in der Menschenrechtsbewegung dominierenden individualistischen Weltbild.

Das Selbstgefühl von Menschenrechtlern basiert auf dem Bewußtsein ihrer moralischen Überlegenheit gegenüber insbesondere Nationalisten und Rassisten; denn diese mißachten die Rechte derer, die anderen Nationen bzw. Rassen angehören (jedenfalls sehen Menschenrechtler dies meist so). Die Argumentation der Tierrechtler zeigt, daß Menschenrechtler entsprechend handeln: sie mißachten die Rechte derer, die anderen Arten angehören.

Will der Menschenrechtler seine aufklärerische Grundposition beibehalten und nicht hinter Positionen wie "Gott hat den Menschen über das Tier gestellt" sich zurückziehen, dann bleiben ihm nur drei Möglichkeiten:

Entweder er muß vielen Menschen die Rechte, die er zum Beispiel landwirtschaftlichen Nutztieren abspricht, ebenfalls absprechen; dann wird man ihn kaum mehr Menschenrechtler nennen können. Oder er muß die Rechte, die er zum Beispiel geistig schwerstbehinderten Menschen zuspricht, auch landwirtschaftlichen Nutztieren zusprechen; dann hat er sich zum Tierrechtler weiterentwickelt. Oder er besteht auf seinen bisherigen inhaltlichen Positionen; dann muß er aber runter von seinem hohen moralischen Roß und eingestehen, daß sein Wertesystem analog dem der von ihm so inbrünstig verabscheuten Rassisten und Nationalisten strukturiert ist, daß auch er mehr nach der Abstammung fragt als nach (anderen) individuellen Eigenschaften.

Vielleicht beerbt die Tierrechtsidee die Menschenrechtsidee – allerdings ist naturgegebenermaßen Solidarität mit Tieren anderer Arten schwieriger als Solidarität mit Menschen anderer Völker und Rassen. Da ein Konzept von ausschließlich Individual-Rechten um so schwieriger durchzuhalten ist, je unterschiedlicher die Individuen sind und je mehr die Unterschiede zwischen verschiedenen Gemeinschaften ins Auge springen, könnte ein Übergang von der Menschenrechtsidee zur Tierrechtsidee auch zu einer Renaissance von Gemeinschaftsrechten führen.

Eine geistige Hegemonie der Tierrechtsidee dürfte auf mehr Widerstände von seiten des "gesunden Volksempfindens" stoßen als die derzeitige Hegemonie der Menschenrechtsidee. Somit wäre zu erwarten, daß im Schatten der dann "politisch korrekten" Tierrechts-Ideologie alternative Wertesysteme aufblühen bzw. sich halten – von regionalistischen über nationalistische und speziesistische bis hin zu biozentrischen.

Wegen der Schwierigkeiten, die besonders nicht-tierrechtlerische Wertesysteme mit rationalen Begründungen ihrer Positionen haben, ist ein stärkerer Rückgriff auf religiöse Begründungen denkbar. Dies ist für verschiedenste Wertesysteme möglich – zum Beispiel rassistische und nationalistische (man beachte, daß die Vorstellung von einem auserwählten Volk Gottes trotz antinationalistischem Zeitgeist nach wie vor gepflegt wird!), oder speziesistische (so der Mensch als Gottes Ebenbild und Statthalter auf Erden) oder biozentrische ("Mitgeschöpflichkeit", "Mutter Erde um uns, geheiligt werde dein Leben").

 

Dr. Holger Schleip ist von Beruf Augenarzt, verheiratet und hat fünf Kinder, davon eines geistig behindert. Er ist Vegetarier und Tierversuchsgegner aus ethischen Gründen.


 
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