© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/00 21. Januar 2000

 
 
Europäische Union: Grundrechtscharta wird kontrovers diskutiert
Warnung vor Illusionen
Stephan Baier

Als der Europäische Rat im Juni vorigen Jahres in Köln beschloß, eine Grundrechtscharta für die Europäische Union erarbeiten zu lassen, gab es über Ziel und Sinn des Unternehmens bereits unterschiedliche Ansichten. Vor allem die britische Regierung, die die Union als Bund selbständiger Nationalstaaten definiert, lehnte die Aufnahme einer künftigen Grundrechtscharta in den EU-Vertrag ab. Von einer baldigen europäischen Verfassung will man in London schon gar nichts wissen.

Auf dem Kontinent dagegen hat die sich seit Jahren immer mehr beschleunigende Entwicklung vom lockeren Wirtschaftsbund zur engen politischen Gemeinschaft den Ruf nach einer klaren Kompetenzverteilung zwischen der Union und ihren Mitgliedsstaaten und nach einer europäischen Verfassung immer lauter werden lassen.

Ein knapper Katalog mit einklagbaren Grundrechten

Die Vorsitzenden von CSU und CDU, Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber und Partei- und Fraktionschef Wolfgang Schäuble, sprachen sich für eine "Art Verfassungsvertrag" und einen europäischen Kompetenzkatalog aus. Unter den Institutionen der Union herrscht weitgehend Einigkeit darüber, daß das für Nicht-Juristen recht unübersichtlich gewordene Geflecht von Verträgen, auf denen die Europäische Union ruht, durch eine neue, verstehbare und akzeptable Ordnung ersetzt werden sollte. Wenn dies aber geschieht, wenn die zur wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Gemeinschaft herangereifte Union eine Verfassung – wie immer sie auch tituliert werden wird – bekommen soll, dann ist es nur naheliegend, mit einer Auflistung der wesentlichen Grundrechte zu beginnen.

Roman Herzog, der frisch gewählte Präsident des Konvents für eine Grundrechtscharta, weiß, wieviele Fallstricke auf diesem Weg noch zu umgehen sind, und ist deshalb auf Konsens bedacht: "Ich würde für eine europäische Verfassung nur plädieren, wenn ich wüßte, daß die europäischen Völker schon so zusammengewachsen sind, daß das eine Volk, das möglicherweise von anderen überstimmt werden würde, sich dem freiwillig und eigentlich fröhlich unterordnen könnte. Ich bezweifle, daß wir schon so weit sind." Herzog plädierte deshalb bei der Konstituierung des Konventes dafür, "sorgfältig und nüchtern" an die Arbeit zu gehen. Die Europäische Union erwachse, so meinte der Alt-Bundespräsident, mit der Charta "nicht zur Bundesstaatlichkeit mit verfassungsgerichtlicher Kontrolle". Andererseits solle die Charta aber auch deutlich machen, "daß die EU im Verhältnis zu den Bürgern keinen geringeren Bindungen unterliegen darf als die Nationalstaaten in ihren Verfassungen".

Soll die von dem Konvent irgendwann gegen Ende des kommenden Jahres verabschiedete Erklärung also rechtlich verbindlich und einklagbar sein oder nicht? Herzog selbst meinte am Freitag in Brüssel, das werde zunächst nicht der Fall sein, setzte jedoch hinzu: "Aber das wird in nicht allzu fernen Tagen der Fall sein", weshalb man sich so verhalten müsse, als ob der Text die Nationalstaaten tatsächlich in die Schranken weisen könne. Die beiden aus dem Europaparlament in den Konvent entsandten deutschen Christdemokraten, Ingo Friedrich (CSU) und Peter Mombaur (CDU), meinen: "Eine bloße politische Deklaration als Ergebnis des Konvents erscheint ungenügend. Auch im Blick auf die Argumentation in der nächsten Europawahl sollte es Ziel sein, einen knappen Katalog einklagbarer Grundrechte zu erstellen."

Zugleich schränken sie jedoch ein: "In Anwendung des Subsidiaritätsprinzips dürfen die europäischen Grundrechte nicht in die Rechtssphäre der Mitgliedsstaaten eingreifen."

Rechtsnatur der Charta bleibt vorerst ungeklärt

Die beiden Berichterstatter des Europäischen Parlamentes, der britische Liberale Andrew Duff und der österreichische Grüne Johannes Voggenhuber, sind sich hier noch nicht ganz einig. Duff fordert, man solle noch abwarten, bevor man die Frage nach der Verbindlichkeit der künftigen Grundrechtscharta beantwortet. Voggenhuber dagegen kritisiert die allzu beschränkten Ambitionen des Rates und will die "Türe öffnen für einen europäischen Verfassungsprozeß". Auf Nachfrage präzisiert Duff, er könnte sich eine Aufnahme der Charta in den EU-Vertrag vorstellen, wenn dieser revidierte Vertrag durch alle Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament ratifiziert wird. Und auch Voggenhuber ist Realist genug, um zu sehen, daß die Charta nur rechtliche Verbindlichkeit erlangen kann, wenn sie auf dem normalen Weg ratifiziert wird.

Im Arbeitsdokument des Europaparlaments wird breit erläutert, daß die Rechtsnatur der Charta völlig ungeklärt ist. Eine bloße politische Proklamation oder Beschreibung der Grundrechtslage in Europa wird allerdings klar verworfen. Das Parlament sei dafür, so heißt es dort, "daß die Charta für die Gemeinschaftsorgane gemäß dem EU-Recht verbindlich ist und sich direkt auf die EU-Bürger auswirkt".

Charta soll Bestandteil der EU-Verfassung werden

In einer kürzlich verabschiedeten Resolution bezeichnete das Parlament die Charta als Grundbestandteil eines verfassungsgebenden Prozesses. Duff und Voggenhuber fordern trotz aller Differenzen, "der Charta einen verbindlichen Charakter zu geben". Der Vorsitzende der liberalen Fraktion des Europaparlaments, Pat Cox, stimmt dem ebenso zu wie der christdemokratische Fraktionsvorsitzende Hans-Gert Pöttering oder der britische Sozialist David Martin. Und der Vertreter der EU-Kommission im Konvent, Antonio Vitorino, sagt, die Charta solle ein rechtlich verbindlicher Text werden und sich "auf die Grundrechte stützen, die sich aus der Union selbst ergeben".

Wenn es also nicht nur um eine unverbindliche Erklärung geht, die als "feierliche Proklamation" in den Akten oder Papierkörben verschwinden wird, dann drängt sich die Frage nach den Inhalten auf. Welches sind die Grundrechte, die in der Charta EU-weit festgeschrieben und einklagbar gemacht werden sollen? Darüber gibt es schon im Vorfeld der eigentlichen Diskussion, die bei der zweiten Sitzung am 1. Februar in Brüssel beginnen wird, gegensätzliche Ansichten. In einer Stellungnahme des Frauen-Ausschusses des Europäischen Parlamentes etwa heißt es: "Insbesondere sind die Klauseln, die die sogenannten Familienrechte betreffen, in Frage zu stellen; Menschenrechte sind Rechte des Einzelnen und nicht Rechte von Institutionen." Noch deutlicher: "Rechte der Familie als solche existieren nicht...". Ist die Familie nur "Institution", nicht zumindest eine natürliche Gemeinschaft? Hat sie keine eigenen Rechte und keinen Anspruch auf besonderen Schutz durch den Staat und die Rechtsprechung?

Die CSU-Europaabgeordnete Emilia Müller widerspricht heftig: Die Familie müsse ein "Hort der Geborgenheit" sein, der Kindern soziale Orientierung vermittle und den Respekt vor der Person des anderen lehre. Sie bedürfe deshalb des besonderen Schutzes durch die Gesetzgebung. Der Frauenausschuß, dem Frau Müller angehört, sieht dies mehrheitlich anders und will über die Grundrechtsdebatte gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen. So klagt er über die "Diskriminierung aufgrund der sexuellen Neigung", die in einer Gesellschaftssicht wurzle, "in der Männer und Frauen fest umrissene, komplementäre Aufgaben wahrnehmen". Eine Emanzipation der Frauen könne "nicht ohne eine Veränderung dieser Ordnung" erfolgen. Deshalb fordert der Ausschuß: "Die Charta der Grundrechte sollte eine Klausel über ein Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung enthalten." Sollte eine solche Formulierung rechtsverbindlicher Teil des EU-Vertrages oder einer künftigen europäischen Verfassung werden, dann wäre der besondere Schutz des Staates für Ehe und Familie (wie ihn das Grundgesetz vorsieht) dahin und beispielsweise ein Adoptionsrecht für homosexuelle Paare nicht mehr aufzuhalten.

Soziale Rechte bleiben als Staatsziele nicht einklagbar

Freilich gibt es auch Kräfte, die solchen Entwicklungen entgegentreten. EVP-Vorsitzender Pöttering meint auf Nachfrage, der Konvent solle "kein großes Opus erarbeiten", sondern sich auf die wesentlichen Grundrechte konzentrieren. Der Vizepräsident des Europaparlaments, Ingo Friedrich, meint: "Soziale Rechte, die zunächst einer politischen Entscheidung und Abwägung bedürfen, also nicht justiziabel sind, sollten als Staatsziele und nicht als Grundrechte definiert werden." Ein Recht auf Arbeit oder auf die eigene Wohnung könne wohl politisches Ziel, nicht jedoch einklagbares Grundrecht sein.

Friedrich warnte davor, "Illusionen in die Grundrechtscharta aufnehmen zu wollen". Er begrüßte auch Roman Herzogs Klarstellung, daß der auszuarbeitende Text erst durch eine spätere Aufnahme in das europäische Vertragswerk rechtliche Bindung entfalten könne.

Vor allem aber beweisen die sich ankündigenden Kontroversen, wie dringlich eine Grundrechts- und damit eine Grundwerte-Diskussion ist.


 
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