© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/00 28. Januar 2000

 
Macht und Identität
von Moritz Schwarz

Die klassische liberale Staatstheorie konstruiert den Staat, diese Schnittstelle zwischen Realität und Idee, nach der bloßen Vernunft: Die Abstrahierung lebendiger politischer Prozesse zu normativen Theorien, die anschließend der Wirklichkeit wie eine Flasche Lebertran verordnet werden. Ein Vorgehen, das im vergangenen Jahrhundert in Form linker und rechter Realitätsvergewaltigung schließlich blutige Kapriolen schlug.

Das war freilich nicht im Sinne jener liberal-bürgerlichen Staatstheoretiker und Politologen, die dem historischen Prozeß eigentlich nur ein wenig auf die Beine helfen wollten . Doch wie so oft hatten auch diese Herren "Doktoren" nicht das Wohlbefinden des Patienten im Sinne, sondern nur dessen Fortschritt. Nebenwirkungen sind da Nebensache. Bei der gegenwärtigen akuten Erkrankung des politischen Körpers der Deutschen – der CDU-Spendenaffäre –, setzten die Herren dieser Provienienz auf einen nicht zu tiefen Schnitt, um die Wunde nicht zu infizieren – ein wenig Aderlaß und Kur vielleicht.

Wichtig ist ihnen der Erhalt der beiden staatstragenden Parteien CDU und SPD, die sie als die Säulen der bundesdeutschen Demokratie erkennen. Die Herren Doctores sind Etatisten, fürwahr Männer mit Ethos, leiden sie allerdings unter der falschen Vorstellung, wer fit sei, sei auch fidel. Demokratie hat nach ihrer Meinung vor allem stabil zu sein. Ein Zwei-Parteien-System erscheint ihnen da als das Francis-Fukuyama-Ende der Demokratie-Geschichte: Zwei Welteschen stützen den Staat bis in alle Ewigkeit. Nicht berücksichtigt werden qualitative Ansprüche an Demokratie: Identität und Gemeinschaft, Vielfalt und Lebendigkeit, nationales Wollen und das Gefühl politischer Teilhabe. Freilich: das ist nicht sicher, das ist nicht weise – das ist nur jung. In den siebziger Jahren begehrten die Linken gegen diese demokratisch geforderte Frühvergreisung auf, heute sind es die Rechten. Politischer Vielfalt empfehlen sie den Eintritt in eine der zwei großen Einheitsparteien. Das nennen sie dann das Intergrieren alternativer Meinungen in den politischen Prozeß – wo doch die realpolitische Erfahrung zeigt, daß diese tatsächlich, unter völliger Auflösung ihrer Substanz, zu nichts weiter als politischer Macht katalysiert werden.

Wären wir nicht in jene reiche, satte Phase unserer Demokratie hineingeboren, sondern in deren Kampf- und Aufbauzeit, so erschiene wohl auch uns Stabilität als befriedigendes Endziel. Wir aber wollen mehr Demokratie wagen und bei unserem Streben nach Freiheit und Staatlichkeit nicht nur die Zahl der Bürger berücksichtigen, sondern auch deren Eigenarten.


 
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