© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/00 28. Januar 2000

 
Mehr Demokratie!
von Klaus Hornung

Der Zusammenbruch des "Systems Kohl", den wir gegenwärtig erleben, ist nicht Ursache, sondern selbst Teil und Symptom eines viel weitergreifenden Vorgangs. Wir erleben die Krise eines schleichenden Verfassungswandels, der schon seit längerem die repräsentativ-parlamentarische Demokratie zum totalen Parteienstaat deformierte, ein Prozeß, der nicht auf die CDU beschränkt ist, sondern alle unsere Parteien erfaßt hat. Entgegen Verfassung und Parteisatzungen ist dabei auch die innerparteiliche Demokratie unter die Räder gekommen. Die Parteien werden von kleinen oligarchischen Gruppen gesteuert und beherrscht. Die Strategie der Political Correctness hat in den letzten Jahren das ihre dazu beigetragen, die lebendige und freie Bürgergesellschaft zu ruinieren.

Während man noch in der Weimarer Republik die Parteien als "extrakonstitutionelle Faktoren" (Heinrich von Triepel) verstanden hatte, hatten die Gründungsväter von 1949 sie ausdrücklich in die Verfassung aufgenommen, wonach sie "bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken" (Art. 21 Grundgesetz). Staatslehre und Politikwissenschaft verstanden sie als "Sprachrohre des mündigen Volkes" und Organisationen, die den Volkswillen "kanalisieren" und zu Alternativen politischer Entscheidung und Gestaltung "bündeln" sollten. Noch 1994 verlangte das Bundesverfassungsgericht Vorkehrungen, daß sie "sich ihren Charakter als frei gebildete, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Gruppen" bewahren und in der Gesellschaft fortdauernd verankert bleiben.

Der Wandel der Verfassungswirklichkeit ging jedoch in die umgekehrte Richtung, von der "Mitwirkung" am politischen Prozeß zur Dominanz in ihm zur Verfestigung der Parteien zu einem "ungeschriebenen sechsten Verfassungsorgan (neben Bundespräsident, Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht), das auf die anderen fünf einen immer weitergehenden, zum Teil völlig beherrschenden Einfluß hat", wie Richard von Weizsäcker schon 1992 sagte.

Schon das Parteiengesetz von 1967 erweiterte den Verfassungsauftrag von der "Mitwirkung" bei der politischen Willensbildung des Volkes zu seiner "Bildung auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluß nehmen". Schon damals warnte der liberale Heidelberger Politikwissenschaftler Dolf Sternberger, die Parteien wandelten sich von ihrem "Verfassungsauftrag, einer Gesellschaft von Freien und Gleichen eine Führung auf Zeit und Abruf zu verschaffen", zu einem Kartell, das dazu neige, den freien politischen Wettbewerb zu blockieren, zu einem "politischen Klerus" von "Vormündern, Pflegern, Lehrern und Gouvernanten, die uns auf die Finger sehen sollen, welch eine Verwerfung der Begriffe!"

Wilhelm Hennis hat später mit gleicher Schärfe von der Tendenz zur Abkopplung der Parteien von der "autonomen Willensbildung" des Volkes und ihrer Transformation zu "Gestaltern, Formierern, Schmeichlern und Züchtigern der Gesellschaft" gesprochen. Parteienstaat und Parteipolitisierung, die etwa Theodor Eschenburg schon vor Jahrzehnten als "Ämterpatronage" kritisierte, bedeuten, daß der Einfluß der Parteien heute weit hinausgeht über den politischen Willen" im eigentlichen Sinn und daß er die "ganze Struktur unserer Gesellschaft" durchzieht: in der Personalpolitik von der Verwaltung in Bund, Ländern und Gemeinden bis zu den Hochschulen, von der Wahl der höchsten Richter durch die Parlamente bis zur Einflußnahme in Kultur und Sport, in den Medien und selbst in den kirchlichen Gremien.

Warum müssen zum Beispiel Parteienvertreter Präsidenten von Sport- und Fußballvereinen sein? Was hat Parteieinfluß in Kirchentagsgremien zu suchen oder bei der Bestellung von Oberstudiendirektoren? Vielfältig zeigte und zeigt sich die Verwechslung der Parteien mit dem Staat, die Auflösung der Gewaltenteilung durch die Parteipolitisierung etwa der höchsten Gerichte. Es wurde zu einem unkontrollierten Gewohnheitsrecht, verdiente Parteifreunde zum Beispiel mit der Berufung in Führungs- und Aufsichtsfunktionen staatlicher und kommunaler Betriebe und Banken fürstlich zu belohnen. In der öffentlichen Beurteilung wurden die Parteien zunehmend als Organisationen des Kampfes um Posten und Finanzen wahrgenommen. Die Lehren der Parteispendenprozesse der achtziger Jahre wurden in der Folgezeit allzu rasch wieder vergessen.

Seit den siebziger Jahren wurden auch die materiellen Grundlagen robust ausgebaut durch staatliche Parteienfinanzierung und Wahlkampfkostenerstattung, Diäten und Pensionen der Mandatsträger, staatliche Finanzierung von Fraktionen und Parteistiftungen. Der Gesamtbetrag hierfür stieg von 1971 bis 1994 von 614,4 Millionen Mark auf 5.987 Millionen, also nahezu sechs Milliarden Mark (Hans Herbert von Arnim). Im internationalen Vergleich leben die deutschen Parteien "wie im Schlaraffenland" (Richard von Weizsäcker). Umso eher konnten sie sich die Abkopplung vom Bürger- und Wählerwillen und ihre innere Oligarchisierung leisten. Gerade die politisch wachen und engagierten Bürger mußten zunehmend den Eindruck gewinnen, daß der Parteienstaat zu einem "System von Karrieren" (Wilhelm Hennis) verkomme, jenem Netz von "Kliquen, Klüngeln und Karrieren", das Erwin Scheuch etwa am Beispiel des "Kölnsche Klüngels" wahrhaft parteiübergreifend dargestellt hat.

Das alles hat zu einer schleichenden Entmündigung der Bürger in Deutschland geführt, sowohl der Wahlbürger wie auch der Parteimitglieder. Die Verantwortung an diesem Gesamtvorgang trifft nicht nur die politische Klasse sondern in einer Demokratie eben auch die Bürger selbst, die das mit sich machen lassen und zulassen, daß man "oben" über ihren expliziten Willen immer wieder hinweggeht: In der Ausländer- und Asylpolitik, bei der man die Ablehnung von bis zu 70 Prozent der Bevölkerung mit der Strategie der Political Correctness unter dem Stichwort "Fremdenfeindlichkeit" oder "Rassismus" nachhaltig niederbügelte; beim Maastricht-Vertrag und der Euro-Entscheidung, die mit kalter Arroganz durchgedrückt wurden, oder etwa bis hin zur Rechtschreibreform, wo man sich erneut gegen die Volksmehrheit auf die Seite volksferner "Experten" und linker Zeitgeistapostel stellte und Länderparlamente Bürgerentscheide kippten.

Die Väter des Grundgesetzes hatten sich vor einem halben Jahrhundert für eine nahezu lupenreine repräsentativ-parlamentarische Demokratie ausgesprochen und nach manchen Erfahrungen in der Weimarer Zeit plebiszitäre Elemente als "Prämie für Demagogie" (Theodor Heuß) verstanden.

Nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte scheinen nun jedoch Korrekturen an der Entscheidung von 1949 dringend, um das System wieder durchlässiger werden zu lassen für den Willen des Volkes, den politischen Prozeß wieder stärker der demokratischen Mitwirkung zu öffnen und damit die Demokratie wieder lebendiger und dadurch stabiler zu machen.

Dieses Bedürfnis artikulierte sich schon seit den siebziger Jahren als die "Bürgeraktionen" wie Pilze aus dem Boden zu schießen begannen. Reformvorschläge liegen inzwischen zahlreich auf dem Tisch und verdienen, in eine breite Diskussion eingebracht zu werden. Nur einige seien hier genannt:

- etwa die Übertragung der Möglichkeiten des Kumulierens und Panaschierens, wie sie im Kommunalwahlrecht von Baden-Württemberg gegeben sind, auch auf Landtagswahlen. Das würde starre Parteilisten durch Übernahme der Kandidaten einer Liste auf die andere auflösen und den Persönlichkeitsfaktor durch "Häufung" stärken.

- Insgesamt müssen die direktdemokratischen Instrumente des Bürgerbegehrens und Bürgerentscheids gestärkt werden, zur Erprobung zunächst einmal in den Ländern.

- Die Direktwahl der Ministerpräsidenten in den Ländern könnte geeignet sein, die Gewaltenteilung zwischen Regierungen und Landtagen wieder zu stärken, die im Lauf der Zeit einem allzu starken Übergewicht der ersteren gewichen ist.

- Von manchen wird die Direktwahl des Bundespräsidenten empfohlen, die dann jedoch auch eine gewisse Erweiterung seiner Kompetenz nötig machen würde. Ein Beispiel wäre die Ersetzung des bisherigen Richterwahlausschußes des Bundestages für die Bestellung der höchsten Richter, die leicht zur Gefährdung der Gewaltenteilung führen kann, durch ein neutrales Gremium unter Vorsitz des Bundespräsidenten.

- Verfassungsreformer müßten ergänzt werden durch innerparteiliche Reformen auf dem Weg über Satzungsänderungen, wie etwa deutliches Verbot von Mandats- und Ämterhäufungen und eine Begrenzung der Zahl der Wahlperiode für Mandatsträger (im Bundestag etwa auf maximal drei, in den Landtagen auf maximal zwei Wahlperioden). An die Stelle der ominösen "Platzhirsche" würde dann wieder ein rascherer innerparteilicher Blutkreislauf treten und der innerparteiliche Diskurs verstärkt.

Reformgrundsatz hätte auf jeden Fall das Zurückschneiden der bisherigen Dominanz der Parteien im politischen System zu sein, und die Korrektur ihrer heutigen Verkrustungserscheinungen in personeller, programmatischer und ethischer Hinsicht. Mit Recht hat Kurt Sontheimer gesagt, daß die heute verbreitete Praxis, "karrierebewußte Personen zum Parteibeitritt aus unpolitischen Gründen" zu ermutigen, den Parteien eher geschadet hat, weil sie prinzipienlose Opportunisten anzieht. Grundsätzlich gilt es, die "Patronagemasse" für Parteikarrieren in Staatsunternehmen und im öffentlichen Dienst zu vermindern. Selbstverständlich müssen im Licht der aktuellen Erfahrungen auch die Probleme der Parteienfinanzierung neu erörtert werden; in einigen Bereichen scheinen die staatlichen Zuwendungen aus Steuermitteln, die man sich genehmigt hatte, korrekturbedürftig zu sein.

Gesetzgeberische und "technische" Regelungen allein reichen freilich zur Reform des parteienstaatlichen Systems nicht aus. Die res publica braucht darüber hinaus Tugenden und sittliches Verhalten der Menschen und Bürger auf den festen Fundamenten religiöser und philosophischer Überzeugungen und Urteilsfähigkeit. Nur auf der Grundlage der Einsichtsfähigkeit in das Rechte, der Unterscheidungsfähigkeit zwischen Gut und Böse, Tugend und Laster kann Freiheit gedeihen und erhalten werden. "Freiheit ohne Wissen um das Rechte ist Willkür, license" (Wilhem Hennis). Das ist den heutigen Deutschen oft allzu sehr aus dem Blick geraten.

Dazu gehört nicht zuletzt die Erkenntis, daß auch und gerade die Demokratie nicht auf die guten Kräfte der Geschichte und Tradition verzichten kann, daß Zukunftsfähigkeit ein kräftiges, positives Herkunftsbewußtsein voraussetzt. Hier hat etwa der englische Konservative Winston Churchill (ungeachtet aller Kritik, die Deutsche ihm gegenüber empfinden mögen) eine zentrale Leitlinie formuliert, die uns in der Krise unseres Parteienstaates dienlich sein kann: Der Politiker denkt nur an die nächste Wahl, der Staatsmann aber an die nächste Generation.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart-Hohenheim.


 
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