© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/00 04. Februar 2000

 
Das entmündigte Volk
von Roland Baader

Nicht (nur) die CDU ist konkursreif, sondern der Parteienstaat und seine Untertanen. Je nach Naturell und politischem Standort schauen die Bürger derzeit dem CDUSkandaltheater entweder entsetzt und empört oder amüsiert und schadenfreudig zu. Keine dieser Reaktionen ist gerechtfertigt, denn was das Wählerpublikum hier zu sehen bekommt, ist nichts anderes als sein eigenes Spiegelbild. Es ist viel dran an der Stammtischweisheit, daß jedes Volk die Regierung habe, die es verdient. Und gleiches gilt für die Parteien und deren Verhalten.

Wer es für das Recht und das legitime Geschäft der Politik hält, ohne Auftrag des Wählers die D-Mark gegen die Camembert-Währung Euro auszutauschen und damit die Spar- und Lebensleistung von drei bis vier Generationen der sicheren Erosion auszusetzen, der braucht sich auch nicht darüber zu wundern, daß ein machtbesessener französischer Staatspräsident den diesbezüglichen Durchmarsch des Freundes Kohl und seiner Partei klammheimlich mit ein paar Millionen unterstützt.

Schlimmer noch: Wer es für normal und notwendig erachtet, die Gestaltung seines Lebens zur Hälfte (oder mehr) den politischen Entscheidungsträgern zu überlassen – und das trifft für die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zu –der hat keinerlei Grund, darüber zu klagen, daß sich in diesem politischen Apparat Korruption ausbreitet. Macht korrumpiert eben. Das ist ein Naturgesetz, weil es in der Natur des Menschen liegt, andere um fast jeden Preis beherrschen und für sich selber eine Sonderstellung erringen zu wollen.

Man kann nicht das gesamte Bildungswesen eines Landes (Schulen und Hochschulen), nahezu das gesamte Gesundheitswesen und alle Vorsorgeeinrichtungen des Lebens, von der Arbeitslosen- und Pflegeversicherung bis zur Rente, dem politischen Apparat - und somit dem Parteienschacher übertragen, ohne daß damit zugleich fast schrankenlose Macht übertragen wird, welche den unwiderstehlichen Impetus zur krakenhaft wachsenden Korruption einschließt. Wer Korruption vermeiden will, muß die Menschen lehren, für sich selber aufzukommen. Alles andere ist schon im Ansatz korrupt.

Politische Gewalt fängt mit Geschenken an, und je mehr die politische Kaste zu geben verspricht, desto mehr ermächtigt sie sich im selben Atemzug, auch zu nehmen. Das heißt aber auch: Je mehr an sozialen Wohltaten, an öffentlichen Gütern und Leistungen, an Hilfe und Fürsorge die Bürger vom Staat einfordern, desto mehr ermächtigen sie seine Repräsentanten und Funktionäre auch zum Nehmen.

In der gesamten Menschheitsgeschichte haben Politiker anderer Leute Eigentum benutzt, um sich selbst Macht zu kaufen. Der "weiche" Sozialismus des Sozial- und Wohlfahrtsstaates hat es hierbei fast zur Perfektion des vormalig "harten" Sozialismus des Ostblocks gebracht. Parteien unterscheiden sich in diesem moralisch und rechtlich verkommenen System nur noch durch Differenzen in der Aussage, wem sie wieviel nehmen und wem sie wieviel vom Genommenen zuschanzen wollen. In einem solchen Tausend-Milliarden-Schacher sind einige Millionen dubiose Parteigelder in der Tat Kohlsche "peanuts".

Das gilt nicht nur hinsichtlich der Größenordnung der Beträge, sondern noch mehr bezüglich der moralisch-rechtlichen Bewertung des CDU-Debakels. So wichtig das Aufdecken von Verschwendung, Korruption, Bestechung und Betrug im Parteienapparat sein und bleiben mag, so lenkt es doch vom Kern der tristen Realität im demokratischen Umverteilungsstaat ab. Gilt ersteres nämlich als illegal oder gar kriminell, zumindest als unmoralisch und charakterlos, so betrachtet man den zwingenden Zugriff des staatlichen Gewaltmonopols auf die Einkommen und Vermögen der Bürger zum Zweck der Umverteilung und des Sozialtransfers als normales Geschäft der Politik, als legitim oder gar als ethisch geboten.

Diese Schizophrenie ist aber durch nichts zu rechtfertigen. Es besteht letztlich weder moralisch noch rechtssystematisch ein Unterschied darin, ob sich die politische Kaste direkt vermittels Selbstbedienung, Bestechung, Filz und Korruption die Taschen füllt, oder ob sie sich indirekt über den Stimmenkauf (mit "legal" geraubtem Geld) Macht, Einfluß, Einkommen, Pensionen und Pfründe aller Art verschafft.

Doch von solcher Einsicht ist die Wählerschaft – auch die sogenannte "bürgerliche" – noch weit entfernt. Vorerst stehen alle Nicht-Linken entsetzt vor dem Kohlschen Scherbenhaufen und fragen sich: Wo ist die Alternative? Wo sind die Figuren und politischen Gruppierungen, die aus dem Schlamassel führen können? Die offensichtliche Perspektivlosigkeit birgt hierbei auch Chancen. Vielleicht dämmert der Klientel jetzt endlich, daß es eine bürgerliche Partei in Deutschland schon seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gibt.

"Bürgerlich", das stand einmal für eine eigenverantwortliche, ihr Leben in die eigenen Hände nehmende breite Bevölkerungsschicht, sowie für deren politische Repräsentanten. Eine Partei oder Koalition jedoch, unter deren Ägide der Staatsanteil am Sozialprodukt auf fast 60 Prozent gehievt und die Staatsschulden in die Billionensphäre getrieben wurden, ist meilenweit von einem solchen Prädikat entfernt. Es gab in Bonn keine "bürgerliche" Partei mehr – und es gibt sie in Berlin erst recht nicht. Die FDP war und ist viertelsozialistisch, die CDU halbsozialistisch, die SPD inklusive der Grünen dreiviertelsozialistisch und die PDS vollsozialistisch. Was also soll das Gejammer um die Beschädigung der "bürgerlichen Alternative" oder um die "ungewisse Zukunft der bürgerlichen Parteien"?

Freilich hilft solche Besinnung auf das Wesentliche derzeit und kurzfristig nicht weiter. Vorerst steht die Frage im Raum, wer das Erbe der gescheiterten Kohl-Partei antreten könnte oder sollte. Eine wiedererstarkende FDP? Eine bundesweit antretende CSU? Ein abgespalteter Flügel der CDU? Oder irgendeine neue Gruppierung, die sich als deus ex machina anbieten könnte? Der irritierte konservative Teil des Volkes hält verzweifelt Ausschau nach einer neuen "Führungsfigur", die den Ausweg aus den Trümmern zeigt, die ihr jahrzehntelang verehrter Großmufti hinterlassen hat. Ob dies ein Zeichen der vielbeschworenen politischen Reife ist, die wir inzwischen erreicht zu haben glauben, darf bezweifelt werden. Wie die verängstigten Kinder verschenken die Deutschen nach wie vor ihre Gunst mal an diese, mal an jene Vaterfigur, je nachdem, wer gerade die größere Führungsstärke zeigt. So gewann Kohl die 94er Wahl vor allem wegen der Führungsschwäche Scharpings; Schröder gewann 1998 wegen der sich auf das Aussitzen beschränkenden Führungsschwäche Kohls, und der Wiederanstieg der oppositionellen CDU in der Wählergunst verdankte sich der Führungsschwäche Schröders. Der nunmehr zu erwartende Höhenflug Schröders wiederum wird sich der Demontage der führenden Vaterfigur Kohl zuschreiben lassen.

Nach wie vor scheint dieses seit Bismarck der Freiheit entwöhnte Volk einen Führer zu brauchen, auch wenn es nach den apokalyptischen Erfahrungen mit "dem" Führer nunmehr natürlich ein demokratischer sein muß. Wobei man zugleich das Kind mit dem Bade ausschüttet und der Lieblingsgleichung der politischen Kaste aufsitzt, daß Demokratie gleich Freiheit sei.

Obwohl Demokratie nur eine der drei unerläßlichen Freiheitsbedingungen (Marktwirtschaft, Rechtsstaat und Demokratie) darstellt, gilt hierzulande nur der "gute Demokrat" als Freiheitsgarant; der gute Marktwirtschaftler hingegen ist ein Schreckgespenst, und wer Rechtsstaatlichkeit vor allem am stringenten Eigentumsschutz festmacht, ist per se der "Klassenfeind". Dabei ist vollständig in Vergessenheit geraten, was die europäischen Vorkämpfer der bürgerlichen Freiheiten zweihundert Jahre lang umgetrieben hat, die Erkenntnis nämlich, daß die (demokratische) Rechtmäßigkeit des Ursprungs der Macht keineswegs vor deren Mißbrauch schützt (man lese einmal bei Benjamin Constant nach oder bei Edmund Burke) und daß auch demokratisch herbeigeführte Kollektiventscheidungen die Form des Befehls annehmen.

Doch bleiben wir einmal bei der falschen, weil verkürzten Gleichung "Demokratie = Freiheit". Dann sollte diese Demokratie wenigstens von gröbsten Mängeln gereinigt werden, allen voran von ihrer totalen Besetzung durch die Parteien. Wenn eine (wirklich) bürgerliche Partei jemals wieder die Regierungsmannschaft stellen will, dann muß sie zuvor den Willen zu einer geradezu revolutionären Erneuerung der demokratischen Institutionen zeigen, zu einer politischen Architektur, die dem völlig veränderten Gesellschaftsgebäude des 21. Jahrhunderts gerecht werden kann. Die Mindestvorgaben hierzu lauten:

1) Übergang zum Mehrheitswahlrecht (damit das verlogene Gerangel um "die Mitte" anfhört, die inzwischen so weit nach links gerückt ist, daß sich Lenin heute als Mann der Mitte bezeichnen würde);

2) Ausschluß von Beamten, öffentlichen Bediensteten und Verbandsfunktionären aus den Wählerlisten zum Parlament. Diese Herrschaften haben kraft ihres Amtes schon Verfügungsgewalt genug über die Menschen; man muß diese nicht noch politisch potenzieren; und der Filzokratie sind hier auch ohne Parteiplafond schon hinreichend Chancen eingeräumt;

3) Aufhebung und Verbot des Fraktionszwanges im Bundestag (damit das "Gewissen" wieder an die Stelle der Partei treten kann);

4) wesentlich mehr direkte Demokratie, vor allem ein obligatorisches Verfassungsreferendum (Volksabstimmung bei jeder Verfassungsänderung) und Direktwahl der Exekutiven auf allen Ebenen (Bürgermeister, Landräte, Ministerpräsidenten und Bundeskanzler);

5) mehr Föderalismus, zuvorderst wesentlich mehr Gemeinde-Autonomie. Das dient nicht nur dem Wettbewerb und der Dezentralisierung als den einzig wirksamen Gegenkräften gegen Machtkonzentration; es ist auch notwendige Begleitbedingung der direkten Demokratie; und

6) verfassungsverankertes Verbot der Staatsverschuldung (ohne jede Ausnahme). Ausführliche Begründungen hierzu sollten sich erübrigen, wenn man nicht den Betrug zur obersten Staatsdoktrin machen will.

Wem das zu realitätsfern und illusorisch klingt, der möge sich sagen lassen, daß ein tiefgreifender Wandel dieser Art so oder so heraufziehen wird. Die – wohl gerade deshalb so verteufelte – Globalisierung wird’s schon richten. Und mit ihr die heranwachsende Generation, die sich zu Recht weigern wird, den Tausend-MilliardenSchrott, den ihr die politischen Gesellschaftsklempner des Allzuständigkeitsstaates zur Abtragung aufbürden wollen, ein Leben lang mitzuschleppen. Es fragt sich lediglich, ob man die neue Architektur freiwillig und in geordneten Bahnen umsetzen wird – oder aber gezwungenermaßen und auf den Trümmern eines polit-ökonomischen Karrens, den man zuvor an die Wand gefahren hat.

 

Roland Baader, Jahrgang 1940, studierte in Freiburg i.B. bei Friedrich A. von Hayek und in München Nationalökonomie und Soziologie. Von 1968 bis 1985 war er Industriemanager und Unternehmensleiter. Seither ist er als freier Publizist tätig. Baader veröffentlichte mehrere Bücher, zuletzt "Die belogene Generation: politisch manipuliert statt zukunfstfähig" (Resch, Gräfelfing, 1999).


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen