© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/00 04. Februar 2000

 
Studie: Der Osten denkt nach wie vor eher sozialistisch, der Westen überwiegend freiheitlich
Zwischen Freiheit und Gerechtigkeit
Bernd-Thomas Ramb

Zehn Jahre nach dem revolutionösen Freiheitskampf der DDR-Bürger zeigen soziologische Untersuchungen, daß alte sozialistische Wertvorstellungen immer noch eine Grenze zwischen Ost- und Westmentalität ziehen. Die Erziehung zum sozialistischen Menschen hinterläßt bleibendere Spuren als die Erinnerung an die marode und umweltzerstörende sozialistische Planwirtschaft. Ein Jahrzehnt soziale Marktwirtschaft und – im Osten höherer, im Westen niedrigerer – Wohlstandszuwachs verwischen kaum die Diskrepanzen in der Bewertung grundlegender sozialer Indikatoren wie Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit. Der Osten denkt nach wie vor eher sozialistisch, der Westen immer noch überwiegend freiheitlich.

Zu diesem Ergebnis führt das mittlerweile zum siebtenmal erstellte "Wohlfahrtssurvey" des Jahres 1998 mit dem speziellen Untertitel "Wohlfahrtsentwicklung, Integration und Exklusion im deutsch-deutschen und europäischen Vergleich". Die Datenbasis wurde durch eine Repräsentativumfrage unter 3.042 Bürgern in den alten und neuen Bundesländern gewonnen. Nach 1990 war es die zweite vergleichende Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung in Zusammenarbeit mit dem Mannheimer Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA), Abteilung Soziale Indikatoren. Zwar attestieren die Forscher im Gesamtergebnis ihrer Studie eine Annäherung im "subjektiven Wohlbefinden" zwischen den alten und neuen Bundesrepublikanern auf westdeutschem Niveau, die Details der Ergebnisse zeigen jedoch ein sehr differenziertes Bild.

Besonders kraß sind die Unterschiede in den Wertmaßstäben, die den klassischen Sozialzielen Freiheit, Wohlstand, Sicherheit und Gerechtigkeit zugewiesen werden. In Westdeutschland ist die Rangfolge: Zuerst kommt die Freiheit, als zweites der Wohlstand, als drittes die Sicherheit und als letztes die Gerechtigkeit. Die Ostdeutschen werten dagegen nahezu umgekehrt. Am weitaus wichtigsten ist ihnen die Gerechtigkeit, dann nahezu gleichauf die Sicherheit und die Freiheit. Am Schluß rangiert mit deutlichem Abstand das Wohlstandsziel.

Unterschiedlich ist aber nicht nur die Rangfolge, sondern auch die relative Bedeutung der einzelnen Sozialfaktoren. Während in den alten Bundesländern die Rangabstufung so gut wie gleichmäßig erfolgt, nimmt die für die Ostdeutschen so überaus bedeutsame Gerechtigkeit einen absoluten Spitzenwert ein. Die Sensibilität für die Sozialziele ist in den neuen Bundesländern insgesamt wesentlich ausgeprägter als in den alten.

Die Frage nach den Ursachen für die unterschiedliche Bewertung läßt sich nicht ohne weitere Erhellung der Untersuchungsmethode und der Einzelanalysen erschließen. Zum einen wurden die doch recht allgemein gefaßten Begriffe wie "Freiheit" und "Gerechtigkeit" in Detailaspekte zerlegt. Zum anderen kann die Bewertung nicht nur abstrakt und gleichsam ideologisch absolut erfolgen. Sie hängt offensichtlich in einem hohem Maße auch davon ab, inwieweit der Befragte diese Sozialziele bereits verwirklicht sieht. Dazu wurde gezielt gefragt und da klaffen erhebliche Lücken zwischen Ost und West. Nur selten stimmen die Detaileinschätzungen überein, wie ein Blick auf die Einzelanalysen zeigt.

Unter dem Sozialziel "Freiheit" wurden so verschiedene Aspekte erfaßt, wie: Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Freiheit des Glaubens, Recht auf freie Meinungsäußerung und Recht auf freie Wahl von Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte. Allein die Glaubensfreiheit sehen Ost- wie Westdeutsche gleichermaßen zu über 90 Prozent verwirklicht. Meinungsfreiheit wird im Westen zu 80 Prozent als gegeben betrachtet, während der Osten dem nur zu 69 Prozent zustimmt. Die Freiheit der Lebensgestaltung ist für 72 Prozent der "Wessis" existent, aber nur für 52 Prozent der "Ossis". Der schärfste Unterschied zeigt sich bei der Freiheit der Berufswahl und des Arbeitsplatzes. Während im Westen 78 Prozent diese Freiheit als Realität empfinden, glauben im Osten nur 32 Prozent, Beruf, Arbeits- und Ausbildungsplatz frei wählen zu können.

Auch der Sicherheitsbegriff zeigt ebenso zahlreiche Facetten wie unterschiedliche Bewertungen. Übereinstimmung zwischen Ost und West besteht lediglich in der Bewertung des Umweltschutzes, den beide Seiten zu 62 beziehungsweise 64 Prozent als gegeben ansehen. Auch beim Thema Schutz des Eigentums bestehen relativ geringe Differenzen. Ihn bewerten 85 Prozent im Westen und 70 Prozent im Osten als gesichert. Erhebliche Diskrepanzen liegen dagegen bei der Einschätzung der öffentlichen Sicherheit und beim Thema soziale Sicherheit vor. Nur 50 Prozent der Westdeutschen betrachten die öffentliche Sicherheit als gegeben, im Osten liegt die Rate mit 29 Prozent fast halb so hoch. Ähnlich die Bewertung der sozialen Sicherheit. 63 Prozent sehen sie im Westen, lediglich 33 Prozent im Osten.

Beim Thema Gerechtigkeit ist die Einschätzung der Realität generell eher negativ. Aber auch hier zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Ost und West. Relativ positiv wird die Gleichstellung von Mann und Frau eingeschätzt: 65 Prozent im Westen und 52 Prozent im Osten sehen sie als gegeben. Beim Thema Solidarität mit Hilfsbedürftigen ist die Differenz ähnlich groß. Während im Westen mit 49 Prozent fast die Hälfte der Befragten diese Solidarität als ganz oder weitgehend realisiert ansieht, sind es im Osten nur 37 Prozent. Beim Gerechtigkeitsaspekt Chancengleichheit meinen 45 Prozent der Wessis, dagegen nur 23 Prozent der Ossis, sie wäre vorhanden. Ganz katastrophal aber wird die gerechte Verteilung des Wohlstands beurteilt. Im Westen sind immerhin noch 29 Prozent der Auffassung, der Wohlstand wäre gerecht verteilt, im Osten glauben dies nur acht Prozent.

Mehr als neun von zehn befragten Bürgern der ehemaligen DDR sind somit der Auffassung, der Wohlstand würde nicht gerecht verteilt. Das Argument, daß die Freiheit der Marktwirtschaft nicht nur zu einem allgemeinen Anstieg des Wohlstands führt, sondern auch seine eigenen sozialen Gesetze von "gerechter Verteilung" besitzt, die mit sozialistischen Vorstellungen von gerechter Verteilung nichts gemein haben, hat somit auch zehn Jahre nach dem Bankrott der sozialistischen Planwirtschaft kein breites Gehör gefunden. In Verbindung mit der Tatsache, daß der Gerechtigkeitsaspekt das höchste Ansehen in den neuen Ländern genießt, während die Freiheit geringer geachtet wird, liegt der Schluß nahe, daß nach wie vor ein starker Wunsch nach Umverteilung den Osten beherrscht. Kein Wunder, daß die PDS mit diesem Vorurteil von Ungerechtigkeit ihre starken Ergebnisse erzielen kann.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen