© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/00 04. Februar 2000

 
Kino: "Felicia, mein Engel" von Atom Egoyan
Unschuld trifft Weisheit
Claus-M. Wolfschlag

Das junge und frisch verliebte irische Mädchen Felicia (Elaine Cassidy) hat sich auf der Suche nach ihrem Liebhaber, einem britischen Soldaten, von dem sie ein Kind erwartet, nach England begeben – ohne Paß und mit nur wenig Geld. Auf ihrem Weg zu jenem Johnny (Peter McDonald), der von seiner Vaterschaft wohl ebenso unwissend wie reichlich desinteressiert ist, begegnet das Mädchen Hilditch (Bob Hoskins), dem kauzigen Küchenchef eines Industriebetriebes, der sich ihrer annimmt. Doch bereits frühzeitig wird deutlich, daß Hilditch, der in seinem Berufsleben voller Güte zu seinen Mitarbeitern erscheint, gegenüber dem Mädchen nicht nur von fürsorglichen Motiven geleitet wird. Vielmehr hat sich Felicia in die Hände eines geschickt agierenden Triebtäters begeben. Erst ganz am Ende ihrer qualvollen Odyssee soll Felicia die wahren Umstände ihrer Situation erkennen.

Die Arbeit von Regisseur Atom Egoyan ("Exotica") zeichnet sich durch den Zusammenprall zweier gegensätzlicher Lebenseinstellungen und Kulturen aus. Felicia, die jugendliche, naive Unschuld, trifft auf Hilditch, der das perverse, aber kluge Alter verkörpert, und dem es gelingt, das Mädchen mit immenser Phantasie immer stärker zu manipulieren. Das Mädchen begibt sich aus ihrer ländlich geprägten Heimat mit grünen Wiesen und beschaulichen Dörfern in eine fremde, industriell geprägte Umgebung. Hier wird ein Dualismus zwischen ländlicher "Reinheit" und städtischer "Verdorbenheit" angedeutet, wie er schon in zahlreichen Filmen (nicht erst seit der Gene Kelly-Musical-Verfilmung "Brigadoon") zelebriert wurde.

In einem bisweilen etwas zu langatmigen Erzählrhythmus nähert sich Egoyan, vergleichbar Chabrol oder Hitchcock, den menschlichen Abgründen, die hinter der Fassade des Kleinbürgers stecken. Hilditch wird keinesfalls als pure Negativ-Figur präsentiert. Ausgiebig wird die Tragik dieses Menschen, zwischen unbewältigter Haßliebe zur während der Kindheit des Täters erdrückend dominanten Mutter und dem verzweifelten Kampf gegen die Einsamkeit dargestellt. Nicht eine animalische Aggression ist es, die ihn immer wieder dazu verführt, zum Mörder zu werden, sondern seine panische Furcht davor, verlassen zu werden. Mit der Angst vor der Einsamkeit im Alter und der gleichzeitigen Anziehungskraft der unbedarften Jugend greift Egoyan universale Themen auf. Umgesetzt wird das Geschehen durch eine meisterhafte Kameraführung und geschickte Schnittechnik. Große Kameraschwenks fassen die Landschaft und die in ihr wirkenden Personenkonstellationen wie in einem beweglichen Gemälde ein. Rückblenden liefern Aufschluß über die Lebensgeschichte der beiden gegensätzlichen Protagonisten, über den Ursprung ihrer Wege, die sich zufällig an einer Straßenecke kreuzten. Die Wirklichkeit zweier auf den ersten Blick scheinbar ganz normaler Menschen erscheint auf einmal sehr komplex, angesiedelt zwischen unbewältigten Kindheitstraumata, Sehnsüchten und gesellschaftlichen Zwängen. Das Aufeinandertreffen wird zur Verwandlung der beiden Menschen. Hilditch, aus seiner nostalgischen Welt der fünfziger Jahre endlich erwacht, wird sich seines Tuns bewußt, Felicia beginnt das Leben mit neuen, wissenden Augen zu betrachten.


 
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