© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/00 18. Februar 2000

 
Interview: Der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow über eine Charta für die Erde
"Jesus und Marx wurden verkannt"
Franz Alt

Herr Gorbatschow, als Präsident des Internationalen Grünen Kreuzes haben sie angekündigt, eine "Charta für die Erde" zu veröffentlichen. Was ist der Inhalt?

Gorbatschow: Das werden die neuen "Zehn Gebote" – das Neue Testament der Ökologie. Wir haben die Erde überlastet und überfordert. Dies gilt für die ganze Natur – für den Boden, für die Luft und für das Wasser. Wir haben beim "Grünen Kreuz" viele Jahre alle verfügbaren Informationen gesammelt. Die wichtigste Aufgabe der Weltpolitik im neuen Jahrhundert ist die Umweltpolitik, die Bewahrung der Schöpfung. Die Zeit dafür ist knapp. Wir müssen uns klarmachen, daß auch die Wirtschaft wichtig ist, wenn es um wirksame Umweltpolitik geht. Aber am wichtigsten ist, daß die Menschen umdenken und anders handeln. Politik wird von allen Menschen beeinflußt – auch Umweltpolitik. Wenn den Menschen bewußt wird, was mit der Natur vor sich geht, werden sie den entscheidenden Einfluß darauf nehmen, den Zerstörungsprozeß zu stoppen. Die Erde kann auch ohne Menschen auskommen, aber wir Menschen nicht ohne die Erde. Wichtig ist auch, ein Verbot aller Atomwaffen zu erreichen. Alle Atomwaffen müssen in der Zukunft verschwinden. Wir müssen sie ausrotten, sonst werden wir selbst ausgerottet. Die Erdcharta soll das Gewissen der Menschheit schärfen. Dafür wollen wir alle politischen Philosophien und alle Religionen zusammenführen.

Die Globalisierung der Wirtschaft hat zur Folge, daß zur Zeit Profit und Kapital wichtiger sind als Arbeitsplätze und Umwelt. Soll Ihre Erdcharta ein Gegengewicht gegen die aktuelle Globalisierung bilden?

Gorbatschow: Die Wirtschaft tut alles, um noch mehr Profit zu bekommen. Wichtig ist, daß auch die Wirtschaft hilft, die Natur zu bewahren. Die Wirtschaft muß lernen, in Natur und Naturerhalt zu investieren. Wir dürfen die Wirtschaft nicht als Feind betrachten. Wir müssen vielmehr andere Wirtschaftsformen entwickeln, die sozial und ökologisch verträglich sind. Der Fundamentalismus der Globalisierer ist genauso gefährlich wie der islamische Fundamentalismus oder der kommunistische Fundamentalismus. Nur durch eine geistige Perestroika vieler Menschen werden wir Einfluß auf die Wirtschaft nehmen können, damit diese sozial und ökologisch arbeitet. Die wichtigste Herausforderung unserer Zeit ist die ökologische Herausforderung.

Kennen Sie eine politische Philosophie, welche eine ausschließlich profitorientierte Globalisierung stoppen könnte?

Gorbatschow: Eine solche Philosophie bildet sich jetzt weltweit – es ist eine Philosophie der Verantwortlichkeit. Diese Philosophie ist mit dem Sozialdarwinismus nicht einverstanden, wonach nur die Starken überleben und die Schwachen untergehen werden. Die humanistische Philosophie meint, daß wir unsere Lebensweise ändern müssen und können. Dabei werden uns hauptsächlich die Religionen behilflich sein. Das Positive und Konstruktive aller Religionen kann uns bei der Transformation der konsumistischen Lebensweise helfen. Das meint auch der Papst.

Sie sagen, die sozialistischen Ideen werden nicht untergehen. Was sind für Sie heute "sozialistische Ideen"?

Gorbatschow: Die Zeit des klassischen Gegensatzes Kapitalismus und Kommunismus ist endgültig vorbei. Das ist Vergangenheit. Wir brauchen im neuen Jahrhundert andere Werte, hauptsächlich Freiheit und die Fähigkeit, unvoreingenommen die Zukunft zu gestalten. Ohne Freiheit kann der Mensch kein Mensch sein. Ohne Freiheit gibt es keinen wirklichen Fortschritt. Aber der Staat muß regulieren, um die Natur zu schützen, die sozialen Probleme zu lösen und die Kluft zwischen arm und reich zu verringern. Gerechtigkeit, Solidarität und Ökologie: Das verstehe ich heute unter sozialistischen Werten. Die Zeit ist reif für diese neuen, alten Werte. Die USA verbrauchen heute 40 Prozent aller Ressourcen der Welt. Das hat keine Zukunft – das geht einfach nicht. Das wissen auch die Amerikaner. Es beginnt gerade jetzt die Zeit einer neuen weltweiten Verantwortlichkeit.

Sie haben in einem Interview gesagt, die sozialistischen Ideen des Jesus von Nazareth werden Zukunft haben. Was meinen Sie damit?

Gorbatschow: Brüderlichkeit, Freiheit und Gerechtigkeit. Davon bin ich fest überzeugt. Wenn Sie das nicht glauben, dann müssen Sie Jesus und Karl Marx lesen, beide wurden verkannt und falsch verstanden. Wir brauchen ihre Werte – wir brauchen mehr Jesus und mehr wirklichen Karl Marx. Jesus und Marx sind die wichtigsten Ideengeber unserer Zeit. Wir sind nur Ausführende.

 

Dr. Franz Alt, Umweltjournalist und Buchautor, führte das Gespräch mit Michail Gorbatschow für die am 16. Februar gestartete SWR-Sendereihe "Grenzenlos", die jeweils am dritten Mittwoch im Monat ausgestrahlt wird.


 
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