© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/00 25. Februar 2000

 
Kolumne
Hospitalismus
von Klaus Motschmann

In den sechziger Jahren lief in unseren Kinos ein Film, in dem eine Ehescheidung der besonderen Art dargestellt wurde. Ein vermögender Unternehmer suchte nach einer eleganten Lösung, sich von seiner alternden Ehefrau zu trennen. Mord schied aus moralischen, Scheidung aus juristisch-gesellschaftlichen Gründen aus, so daß nur noch der Rat des Hausarztes übrigblieb: die Frau doch bei jeder nur möglichen Funktionsstörung sofort einer gründlichen medizinischen Untersuchung zu unterziehen und auch ohne konkrete Beschwerden regelmäßig zur Vorsorge zu schicken, am besten in dafür ausgestattete Kliniken.

So wie der Arzt es empfahl, geschah es auch: immer häufiger suchte die Frau Kurbäder und Kliniken auf. Verwandte und Bekannte, Geschäftspartner und Mitarbeiter waren des Lobes voll, mit welcher Für- und Vorsorge der Mann sich um die Gesundheit seiner Frau kümmerte.

Lange Zeit bemerkte niemand, daß es dem Mann keineswegs um Liebesbeweise für seine Frau, sondern für seine junge Geliebte ging, mit der er immer ungestörter unseriöse Geschäfte betrieb. Denn es kam wie es kommen mußte: je länger die Ehefrau sich in Kliniken und Hospitälern aufhielt, desto anfälliger und kränker wurde sie. Es stellten sich (erwartungsgemäß) schwere physische und psychische Schäden ein, die sich in völliger Apathie und immer neuen Krankheiten äußerten. Es handelt sich um den sogenannten Hospitalismus, der selbst gesunde Menschen befällt, wenn man sie nur lange genug in der Klinik behält.

Medizinische Begründungen dafür lassen sich immer finden. Und tatsächlich kann ja auch ein harmloser Magenkatarrh oder ein Kopfschmerz ein erstes Anzeichen für eine schwere Krankheit sein. Insofern ist es schon richtig: Wehret den Anfängen! Vorsorge ist besser als Nachsorge und so weiter. Allerdings sollte man hinzufügen: Allen Anfängen, wenn es wirklich darum geht, einem Menschen die Gesundheit zu bewahren.

Dazu gehören auch die Anfänge des Hospitalismus und der bereits weit vorangeschrittenen Paranoia. Sie sollten bei aller Sorge um die "Anfänge" nicht übersehen werden, wenn es denn wirklich um die Gesundheit geht und nicht um eine seriös anmutende, gleichwohl unmenschliche Behandlung von Menschen. So wichtig die Untersuchungen bestimmter menschlicher Defekte auch sind, sei es in medizinischen Kliniken oder parlamentarischen Untersuchungsausschüssen: es sollten auf gar keinen Fall Mißverständnisse über die Absichten dieser Untersuchungen entstehen und eine Rangfolge der Probleme wieder deutlich werden.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin


 
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