© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/00 24. März 2000

 
Fachkräftemangel: Ingenieur-Import aus Ostmitteleuropa ist Illussion
Vergebliches Anwerben
Peter Herter

Vor vier Jahren war Gerhard Schröder noch nicht Bundeskanzler, sondern Ministerpräsident des mit 60 Milliarden Mark verschuldeten Niedersachsens. Das Land mußte sparen, seine Kultusministerin Helga Schuchhardt sparte unter anderem an der Uni Hildesheim: Der 1984 unter CDU-Regie mit etwa 55 Millionen Mark aufgebaute Studiengang Informatik wurde per Verordnung geschlossen. Weder der Vorschlag, anstatt Informatik besser die Sozialpädagogik zu schließen, noch die Studentenproteste konnten Schröder erweichen: "Der Beschluß steht fest." Im Februar diesen Jahres bekam Schröder die Auswirkungen seines Handels auf der CeBIT zu spüren. Der erst im Herbst vergangenen Jahres gegründete Verband BITKOM - in dem kleine IT-Unternehmen ihre Interessen vertreten - erklärte dem Kanzler, was das größte Problem für diese jungen Unternehmer ist: Fachkräftemangel. Da mutierte der "Automann" Schröder plötzlich zum "Computermann" und forderte den Import von Fachkräften aus Osteuropa oder Asien. Wieviel "Computer-Inder" kommen werden, ist noch unklar, aber Fachleute aus den - von vielen Unternehmern als ideal angesehen - EU-Betrittskandidaten Ungarn oder Slowenien werden kaum ihre Heimat Richtung Deutschland verlassen wollen. Arbeitnehmerquoten in EU-Ländern - auf Grundlage bilateraler Staatsverträge - werden beispielsweise von ungarischen Arbeitskräften bisher bei weitem nicht ausgeschöpft. Das dokumentiert ein Bericht der ungarischen Landesforschungsanstalt für Arbeitsmarktfragen. Mit Deutschland, Österreich, der Schweiz, Holland, Luxemburg, Irland sowie der Slowakei hat Ungarn bisher Verträge über Arbeitskräfteexport geschlossen. Nach einer bilateralen Vereinbarung soll Deutschland beispielsweise jährlich 2.000 Arbeitnehmer aus Ungarn aufnehmen, 1998 machten aber merkwürdigerweise nur 870, voriges Jahr 933 Personen davon Gebrauch, obwohl der juristische Prozeß dem ungarischen Arbeitnehmer vielfach erleichtert wird. Bei der Stellensuche ist deutsche Seite behilflich, gesucht werden gut ausgebildete Fachkräfte im Alter zwischen 18 und 40 Jahren mit deutschen Sprachkenntnissen, bislang meist für die Gastronomie. Der Arbeitsvertrag läuft ein Jahr und kann ein halbes Jahr verlängert werden. Jährlich 3.500 bis 4.000 Saisonarbeiter hätten auch die Möglichkeit, drei Monate lang ohne jegliche Ausbildungsvoraussetzungen - etwa in der deutschen Landwirtschaft - tätig zu sein und für ungarische Maßstäbe gutes Geld zu verdienen.

Ein Grund für das mangelnde Interesse könne der geringe Bekanntheitsgrad der Arbeitnehmer-Quote bei den potenziellen Bewerbern sein, so ein Abteilungsleiter der Forschungszentrale. Die ungarischen Arbeitsämter stellen kostenlose Informationsbroschüren über die Arbeitsmöglichkeiten im Ausland zur Verfügung, diese sind aber schnell vergriffen, werden von Privatvermittlern kopiert und gegen mehrere tausend Forint zum Kauf angeboten.

Ähnlich gleichgültig verhalten sich die ungarischen Arbeitnehmer gegenüber Luxemburg, Irland und Holland, nicht aber gegenüber den kleinen Alpenländern. Die 300 beziehungsweise 400 Arbeitsplätze in Österreich wurden im Vorjahr alle besetzt, obwohl die Altersgrenze bei 35 liegt und die Interessenten selbst für eine Stelle zu sorgen haben. Die 100 Plätze in der Schweiz werden dieses Jahr wahrscheinlich schon im März ausgeschöpft sein, obwohl gute Kontakte nötig sind, um eine Stelle in der Eidgenossenschaft zu finden. Der Verkehr auf dem Arbeitsmarkt zwischen Ungarn und der Slowakei ist eine Einbahnstraße: Während kaum Ungarn in der Slowakei arbeiten, nutzen die Slowaken die gegenseitige Quote von 400 Arbeitnehmern völlig aus, die nächstes Jahr sogar auf 800 erhöht werden soll.

Der Arbeitskräfteimport ist der ungarischen Regierung sogar recht, sie will gar ein Pilotprojekt wagen: Laut einer im Auftrag des Regierungschefs Viktor Orb‡n entstandenen Studie soll der Rückgang der ungarischen Bevölkerungszahl durch Einwanderung von Arbeitskräften gestoppt werden. Die sinkende Geburtenzahl in Ungarn veranlaßte die Wissenschaftler zu demographischen Studien, die ergaben, daß die Bevölkerungszahl Ungarns von heute 10 Millionen auf 8 Millionen im Jahre 2050 sinken wird. Da die durch die Mitte-Rechts-Regierung eingeführte Familienförderung nicht so erfolgreich war, um diesen Vorgang anzuhalten, tauchte die Idee der Ansiedlung ausländischer Arbeitskräfte auf. In Ungarn erarbeitete man drei Drehbücher. Die "Blitzlösung" wäre die sofortige Ansiedlung von einer Million Menschen, plus jährlich zehntausend Einwanderer als Nachschub. Die Alternativen zu dieser "theoretischen" Möglichkeit sind einerseits die Aufnahme von jährlich fünfzigtausend Ausländern, was wiederum eher theoretisch ist; zweitens gibt es eine "Mischversion", die sowohl mit dem Anstieg der Kinderzahl - pro Frau 2,5 Kinder, aktuell bringen ungarische wie deutsche Frauen etwa 1,3 Kinder zur Welt - als auch mit dem der Lebenserwartung rechnet und so die Ansiedlung von jährlich 20.000 Einwanderern vorsieht. Über das Herkunftsland der künftigen "Ungarn" sagt die Studie nichts. Lászlo Hablicsek, stellvertretender Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung erwiderte auf eine Anfrage, aufgrund vorhandener "ausländischer Erfahrungen" sei nicht die Nationalität, sondern die "Ausbildung des Einwanderers" von Belang. Er räumte aber ein, die ungarische Nationalität könne vielleicht einen Vorteil bedeuten. Im weiteren betonte er, eine gründlich ausgearbeitete Immigrationspolitik könnte auch die Vorurteile in der Gesellschaft gegenüber Ausländern abbauen.

Daß es Probleme gibt, beunruhigt die liberale Zeitung Magyar Hirlap, die die Ergebnisse einer Meinungsumfrage vom Februar abdruckte: 38 Prozent der Ungarn würden überhaupt keine Fremden ins Land hineinlassen. Diese Prozentzahl soll 1992 erst bei 15 Prozent, letztes Jahr 26 Prozent betragen haben. Besagte Zeitung hat keinerlei Zweifel an der "therapeutischen Wirkung" ausländischer Arbeitskräfte und betitelt ihren Leitartikel "Ansiedeln oder hassen?" Aus offiziellen Statistiken des ungarischen Innenministeriums geht übrigens hervor, daß gegenwärtig 65.000 Ausländer in Ungarn leben; das sind 0,65 Prozent der Gesamtbevölkerung. Jährlich erhalten zwischen 3.000 und 10.000 Ausländer die ungarische Staatsbürgerschaft.


 
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