© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/00 24. März 2000

 
Pankraz,
das Kind und die Angst vor dem Flug der Eule

Gleiche Fakten, konträr verschiedene Diagnose. Zwei kurz hintereinander in den USA erschienene Bücher (mittlerweile auch auf Deutsch zu haben), Robert Blys "Die kindliche Gesellschaft" und Neil Postmans "Die zweite Aufklärung", zetern darüber, daß der moderne Mensch nicht mehr zu "fragen" verstehe. Er sei, wollen beide beobachtet haben, durch die Allgegenwart der Telekommunikation mit ihrem diffusen Info-Salat und dem Surfen im Internet zum bloßen "Hinnehmer" degeneriert, dem das Warum der Dinge ("Warum ist das so und so?") völlig gleichgültig geworden sei. Bly sieht darin nun aber eine penetrante "Verkindlichung der Erwachsenenwelt", eine "Weigerung, erwachsen zu werden", Postman genau das Gegenteil, "den Verlust, die Abschaffung der Kindheit".

Die Schnittstelle beider Bücher ist wahrscheinlich der Begriff der Erziehung. Infantile Erwachsene wie altkluge Kinder verweigern sich der Erziehung. Erziehung im weitesten Sinne verstanden als Prozeß des Sichprägen- und Sichverändern-Lassens durch Vorbildpersonen und durch die abschleifende Kraft des Lebens. Die Telekommunikation und das Surfen im Internet "schützen" sowohl vor leibhaftigen Lehrern wie vor dem wirklichen Leben. Sie schaffen eine Art Kokon, in dem man sich verpuppen kann, ohne je ein richtiges Insekt zu werden. Und das erscheint vielen als Wohltat und Errungenschaft, denn ausgeschlüpfte Insekten leben bekanntlich sehr gefährlich und sterben schnell.

Bly und Postman freilich sind gegen die früh und erfolgreich Verpuppten, jeder auf seine Weise. Postman weint geradezu über die "Computer-Kids", die, statt ausgiebig im Sandkasten zu spielen, schon im zartesten Alter dem Mausklick verfielen und denen man folglich "die Kindheit geraubt" habe. Robert Bly äußert fast auf jeder Seite abgrundtiefe Verachtung für die "voll infantilisierte" Elterngeneration, die mit vor Erstaunen und Bewunderung weit aufgerissenen Nasenlöchern vor den Computerkünsten ihres Nachwuchses stehe und nur noch ein Ziel kenne: so schnell wie möglich auch so wie der Nachwuchs zu werden und ja keine Nachwuchsmode zu versäumen.

Beide polemisieren gegen die gängige Phrase vom "lebenslangen Lernen", dem sich heute jedermann aussetzen müsse und das die Generationen immer wieder auf ein und demselben Niveau vereinige. Diese Art des Lernens, meint Postman, sei nichts weiter als Unterwerfung unter die Erfordernisse des technischen Mediums, ein blindes Aufsammeln von Bedienungsanleitungen, im Grunde ein Hohn auf jedes "echte" Fragen und Antworten.

Pankraz gefällt die kulturkritische Vehemenz von Bly und Postman, aber er fragt sich, wie schon so oft in ähnlichen Fällen, ob denn nicht durch die übertriebene Wucht der Diagnose jede Aussicht auf vernünftige Therapie blockiert wird. Nach der Lektüre von Büchern à la Bly/Postman kann man sich eigentlich nur noch ins Grab legen.

Es gibt angeblich keine wirklichen Kinder mehr und keine wirklichen Erwachsenen, nur noch Automaten und Lemuren – und wenn man den Blick vom Buch hebt, entdeckt man fröhliche, fragemutige und kontaktfreudige Kinder durchaus, auch würdige Erwachsene, die sich nicht auf jung schminken und auch nicht ständig nur am Computer oder vor dem Fernseher hängen. Wer will, kann sich an den Universitäten umsehen, und dort wird er nach wie vor so manchem wohlgelungenen Lehrer-Schüler-Verhältnis begegnen, "echter" Erziehung jenseits der Geräte und Apparate.

Auch das "wirkliche Leben" ist noch keineswegs durch Cyberspace und technische Simulacra zum Verschwinden gebracht. Aus zahlreichen Puppen drängeln sich, um das obige Bild aufzunehmen, gut geratene, voll entwickelte Insekten heraus und wollen den Kampf mit der Welt aufnehmen. Keine Sklaven der Technik sind das von Haus aus, sondern lebendige Körper, die die Technik ihrerseits verdientermaßen zum Sklaven machen, nämlich mit dosierender Übersicht benutzen und einsetzen.

Wer sich, wie Bly und Postman, darüber beklagt, daß bei alledem die Frage nach dem Warum zu kurz komme, der sollte bedenken, daß diese Frage schon immer eine ziemlich exklusive Angelegenheit war, eine Frage zudem, die leicht zu Dogmatismus und Tatsachenblindheit verführen kann. Berühmt der Ausbruch des leidenschaftlichen Naturpraktikers Goethe angesichts der vielen haarspaltenden, auf den Kausalnexus versessenen Philosophen seiner Zeit in Jena und anderswo: "Es kommt nicht darauf an zu fragen: ‚Warum hat der Ochse seine Hörner?‘, sondern man muß fragen: ‚Wie hat der Ochse seine Hörner?‘"

Kaum jemand wird die Gefahr leugnen, die von der Macht der Apparate und eingeschliffenen Strukturen ausgeht. Faktisch jedermann fühlt sich ihnen heute ja ausgeliefert, sieht sich als ohnmächtiges Rädchen im großen Getriebe, gegen das er nichts ausrichten kann. Zwar ist der Marxismus in seinem Ansehen nachhaltig beschädigt, doch seine Grundthese, daß alles seinen "objektiven" Gang gehe und der einzelne nur Freiheit gewinne, indem er sich der vorgeblichen Notwendigkeit einfüge, grassiert wie niemals zuvor.

Ironischerweise ist just im Zuge von Telekommunikation und Infoflut ein nachgerade orientalischer Kismetglaube über die westliche Welt gekommen. Alles ist angeblich vorbestimmt und unabwendbar, Politiker sind lediglich Vollzugsorgane irgendeines telekommunikativen, globalen Weltgeistes, deshalb letztlich unangreifbar, und Kulturkritiker können bestenfalls Eule der Minerva spielen und den Ereignissen hilflos und folgenlos hinterherfliegen.

Wer so denkt, sollte sich nicht wundern, wenn ihm die Welt bald nur noch als eine Ansammlung von infantilisierten Erwachsenen erscheint. Er hat den eigenen Kleinmut an den Horizont seiner Erwartung projiziert.


 
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