© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/00 24. März 2000

 
Hans Herbert von Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung – am Volk vorbei
Die politische Klasse als Souverän
Karl van den Driesch

Willy Brandts Appell "Mehr Demokratie wagen" könnte Richtschnur gewesen sein für Hans Herbert von Arnim, Jahrgang 1939, Professor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaft Speyer, unermütlicher Streiter für eine bessere Demokratie in unserem Land. Soeben hat er sein neues Buch "Vom schönen Schein der Demokratie" vorgelegt. Wer von dem ansehnlichen OEuvre zum Thema weiß, wundert sich eigentlich nicht, sein Credo von der Notwendigkeit direktdemokratischer Verfahren wie Volksbegehren/Volksentscheid auf Bundes- und Landesebene und Bürgerbegehren/Bürgerentscheid auf kommunaler Ebene variiert wiederzufinden, verfeinert, erweitert, mit Argumenten, die im Diskurs der Jahre gewonnen haben. Die allgemeinen Macht- und Motivationsverschiebungen werden noch einmal fokussiert, um dann spezielle Probleme unseres Föderalismus und einer direkten Demokratie zur Ergänzung unserer repräsentativen Staatsfrom in den Blick zu nehmen.

Dreh- und Angelpunkt ist die Bestimmung im Grundgesetz "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", die den Parteien lediglich eine Mitwirkung zugesteht. Dieser Entwurf ist inzwischen verkommen zu einer Parteienherrschaft, die den Bürger auf Distanz hält und ihm Partizipation weitgehend verwehrt. Das Sagen hat eine "politische Klasse" (hauptberufliche Politiker, die von der Politik leben und ihren Status einer Partei verdanken) mit einer "politischen Elite" (in deren Händen sich Macht konzentriert). Im Gegensatz zur Gemeinwohl-Orientierung des Grundgesetzes lassen sich Berufspolitiker heute vorwiegend vom Eigeninteresse des Machterhalts und damit einer Sicherung ihrer Pfründe leiten, wofür extrem das Beispiel des Altbundeskanzlers Kohl steht, der sich sogar über die Verfassung hinwegsetzte.

Der Bürger darf dagegen nur sehr begrenzt befinden, in der Regel bei Wahlgängen. Seine Entmündigung zeigt sich besonders auf Bundesebene, wo die wichtigsten Entscheidungen fallen. Schon an der Entwicklung des Grundgesetzes wurde er nicht beteiligt. Er kann nicht einmal über die Kandidaten entscheiden, die für Bundestag und Landtage zur Wahl stehen, da diese von den Parteien nach Gutdünken ausgewählt werden und durch ein starres Verhältniswahlrecht mit "sicheren" Listenplätzen sogar eines eigenen Profils entsagen dürfen. Der Bürger entscheidet allein noch über die Größe der Parlamentsfraktionen und damit über die Herrschaftsanteile der Parteien. Schon ein öffentliches Nachdenken über eine reine Mehrheitswahl, die die Parlamente vor Luschen bewahren könnte, ist verpönt.

Auch die große Richtung der Politik läßt sich kaum beeinflussen. Unwägbarkeiten ergeben sich aus Regierungskoalitionen mit dann ausgehandelten Verträgen und aus Mehrheiten der Opposition im Bundesrat. Und die Strukturen geben manches Demokratische nicht her, etwa einen Volksentscheid zur Einführung des Euro wie in anderen Ländern.

Mit einer parteiübergreifenden Gemeinsamkeit der Interessen verfügt die politische Klasse heute über die Spielregeln des Erwerbs von Macht, Posten und Geld. Sie ist quasi souverän geworden, die Souveränität des Volkes sei, so von Arnim, übergegangen auf die politische Klasse. Selbst verfassungsrechtliche Grenzen werden durch Grundgesetzänderung überschritten, wenn sich Regierung und Opposition darin einig sind, eigene Unrechtshandlungen zu kaschieren, assistiert von einem Bundesverfassungsgericht, in dem nur Richter sitzen, die von den Parteien ausgewählt wurden.

Aus den Fehlentwicklungen zieht von Arnim den Schluß, daß Heilung nur von einer Rückbindung der Politik an die Bürger über Elemente einer direkten Demokratie zu erwarten ist.

Bei den Bundesländern zeigt der Autor verwandte Probleme, Verwerfungen der föderativen Landschaft zu Lasten von Effizienz und Partizipation. Durch Initiativen der Besatzungsmächte nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Länder als Kunstprodukte früher entstanden als Grundgesetz und Republik. Verständlich, daß die Ministerpräsidenten, die von den Alliierten noch vor den ersten Landtagswahlen eingesetzt worden waren, bei der Arbeit am Grundgesetz ihre Interessen pflegten. So verhinderten sie die Ausgestaltung der Länderkammer als Senat mit direkt gewählten Mitgliedern nach US-Vorbild und setzen gegen Adenauer, Schumacher und Heuss den heutigen Bundesrat durch, der – bei den zweiten Kammern in der Welt einzigartig – aus den Regierungen der Gliedstaaten besteht, was ihnen ein Mehr an Macht und Einfluß sichert. Sie vereitelten auch den von den Alliierten gewünschten Volksentscheid über das Grundgesetz.

Zur Rückbindung der politischen Klasse an die Bürger mahnt von Arnim grundlegende Verfassungsreformen an: Volkswahl der Ministerpräsidenten nach dem Vorbild der Direktwahl von Oberbürgermeistern in Großstädten; statt Ministerien bescheidene Landesämter mit politischen Beamten an der Spitze, ernannt vom Ministerpräsidenten und versetzt in den einstweiligen Ruhestandbei Vertrauensverlust; Reform des Verhältniswahlrechts über Kumulieren (Häufeln mehrere Stimmen) und Panaschieren (Kandidaten verschiedener Parteien wählen können, auch Kandidaten dazuschreiben); Schaffung eines Teilzeitparlaments, Entschädigung statt Vollalimentation und Überversorgung; Volksbegehren/Volksentscheid mit niedrigen Zugangshürden

Schließlich stellt von Arnim die Frage nach der Berechtigung der Bundesländer unter den obwaltenden Umständen heute und in der EU morgen.

Spätestens hier fragt auch der Leser nach der Durchsetzbarkeit solcher Reformideen. Von Arnim ist sich dieser Problematik bewußt. Er setzt auf Bürgerinitiativen, in einzelnen Bundesländern, deren Arbeit eine Sogwirkung auslösen müßte. Hinweisen auf das Grundgesetz begegnet er mit Artikel 146 Grundgesetz, der das deutsche Volk ermächtigt, sich in freier Entscheidung eine neue Verfassung zu geben. Das würde selbst ein Ersetzen des Bundesrates durch einen volksgewählten Senat ermöglichen.

Die politische Klasse hat erkannt, daß sich mit direkter Demokratie in Ergänzung der repräsentativen ein neues System etablierte, das ihre Freiräume einengt und die Machtverteilung hin zum Staatsvolk verschiebt. So etwas wird erfahrungsgemäß nicht ohne Widerstand hingenommen. Und Machtträger sind nicht zimperlich bei der Wahl ihrer Mittel, wenn es um die Verteidigung von Privilegien geht. Die politischen Gegenmaßnahmen haben sich niedergeschlagen in Hürden, die man heute den Volks- und Bürgerbegehren in den Weg stellt in Form von Sachbeschränkungen, Zulässigkeitsüberprüfungen, Quoren und Fristen.

Der Wunsch, direktdemokratsiche Möglichkeiten auf Bundesbene zu schaffen, ist im Land populär und von zwei Spitzengremien schon positiv beurteilt worden. Die gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat nach der Wiedervereinigung war mehrheitlich für derartige Vorschläge eingetreten, scheiterte jedoch an der Zweidrittelmehrheit, die für Kommissionsbeschlüsse festgelegt worden war. Nach der Koalitionsvereinbarung der rot-grünen Bundesregierung sind direktdemokratische Elemente auf Bundesebene durch Änderung des Grundgesetzes geplant. Doch auch hier dürfte die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat nicht zustandekommen; denn CDU und CSU haben sich bislang gegen solche Projekte ausgesprochen.

Wenig überzeugend sind die direktdemokratischen Visionen des Autors in Richtung Brüssel; er dürfte sie selbst bei einer hohen Lebenserwartung nicht einmal in Ansätzen erleben. Der geringe Fortschritt mit der direkten Demokratie in der Bundesrepublik verdankte sich besonderen Konstellationen, weitere Fortschritte dürften mit immensen Schwierigkeiten verbunden sein – trotz der Hoffnung, daß vielleicht einmal nicht zu verstehen sein wird, warum das Durchsetzen direkter Demokratie so schwer war.

Der informativen Zusammenschau ist zu wünschen, daß sie den angestrebten Überzeugungseffekt in einem breiten Maße erreicht.

 

Hans Herbert von Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung – am Volk vorbei. Droemer Verlag, München 2000, 352 Seiten, geb., 44,90 DM

 

Karl van den Driesch, Oberst a.D. der Bundeswehr, arbeitet als freier Journalist.


 
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