© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/00 31. März 2000

 
Anthroposophie: Zum 75. Todestag von Rudolf Steiner
Leib, Seele und Geist
Werner Olles

Rudolf Steiner war Philosoph, Pädagoge, Naturwissenschaftler, Schriftsteller und Begründer der Anthroposophie, jener Lehre, wonach die Entwicklung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zu einer fortschreitenden Wesensschau des Geistigen in Mensch und Welt führt. Steiner sah in der Anthroposophie einen "Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte", sie sei "eine Erkenntnis, die vom höheren Selbst im Menschen entwickelt wird".

Am 27. Februar 1861 in Kraljevica bei Varazdin in Kroatien geboren, studierte er in Wien Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie. In den achtziger Jahren arbeitete er an der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes und war zugleich als Hauslehrer tätig. 1890 begann er als Mitarbeiter am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, hier entwickelte er auch eine reiche schriftstellerische Tätigkeit. Eines seiner ersten Werke war "Die Philosophie der Freiheit" (1894). Vornehmlich setzte er sich jedoch mit der europäischen Geistesgeschichte (Hegel, Fichte, Schelling, Goethe) und den zeitgenössischen Denkern Nietzsche und Haeckel auseinander. Ende der neunziger Jahre siedelte er nach Berlin über und gab dort gemeinsam mit O.E. Hartleben das Magazin für Literatur heraus. In Berlin verkehrte Steiner in den verschiedensten literarischen Zirkeln, wirkte aber auch als Lehrer an der Arbeiterbildungsschule und begann mit einer umfangreichen Vortragstätigkeit, die ihn durch fast alle europäischen Metropolen führte.

1902 trat Steiner der indisch-orientalisch orientierten "Theosophischen Gesellschaft" der Russin Helena Petrowna Blavatsky bei. Er nahm an den diversen theosophischen Treffen in Blavatskys Wohnung teil und übernahm schon bald als Generalsekretär die Leitung der deutschen Sektion. An der Theosophie faszinierten ihn vor allem die Rückschau auf verlorengegangene Fähigkeiten des Menschen in frühester Vorzeit der atlantischen Epoche, aber auch die Vorschau auf zukünftige Evolutionsphasen und die Suche nach bislang unbekannten Naturkräften. So regte er auch die deutsche Übersetzung von Edward Bulwer-Lyttons Buch "The Coming Race" ("Vril oder eine Menschheit der Zukunft") an, das sich eingehend mit dem geheimnisvollen und in allen esoterischen Abhandlungen immer wieder auftauchenden "Vril-Mythos" befaßt. 1910 erschien dann sein vielbeachtetes Werk "Die Geheimwissenschaft im Umriß".

Dennoch brach Steiner im Jahre 1912 mit der Theosophischen Gesellschaft. Während er an das christlich-abendländische Geistesleben anknüpfen wollte, wurde hier das vedisch-indische Gedankengut immer stärker in den Vordergrund gestellt, was schließlich in der Ausrufung eines Weltheilands in der Gestalt Krishnamurtis gipfelte.

Steiner hatte bereits 1904 sein erstes Werk ("Theosophie") zur Begründung der Anthroposophie als umfassende Geisteswissenschaft geschrieben. Hier offenbarte er seine Lehre von der Dreigliederung des Menschen und der Welt in Leib, Seele und Geist und erklärte die Funktion von Reinkarnation und Karma. Seine Anthroposophie beinhaltete eine umfassende Kenntnis der zeitgenössischen Wissenschaften, die – ergänzt durch okkultes Wissen und Anknüpfung an die Mysterientraditionen der Menschheit – in einen philosophischen Zusammenhang gestellt wurde. Die Basis von Steiners Denken bildete hingegen die Fragestellung nach dem Zusammenwirken von Geist und Stoff, Idee und Materie.

1913 begründete er die Anthroposophische Gesellschaft. Steiner selbst übte durch eine umfangreiche Lehr- und Publikationstätigkeit einen weitreichenden Einfluß auf das allgemeine Kulturleben aus. Auf seine Initiative wurde das erste Goetheanum – ein aus Holz geformter Doppelkuppelbau – in Dornach bei Basel gebaut. Hier fanden Mysterienspiele statt – Steiner selbst schrieb vier Mysteriendramen –, Malerei, Architektur und Sprachgestaltung wurden erneuert oder neu geschaffen.

1919 verfaßte er zur Lösung der sozialen Frage einen Aufruf "An das deutsche Volk", in dem er eine Bewegung zur Dreigliederung des sozialen Organismus forderte. Eine strikte Trennung von Kultur, Wirtschaft und Politik sollte zu mehr Freiheit und sozialer Gerechtigkeit führen.

Mehr Erfolg hatte Steiner mit der Gründung der Freien Waldorfschulen, die neben Vorschulerziehung und Heilpädagogik eine eigene, an der ganzheitlichen Menschenerkenntnis ausgerichtete Pädagogik praktizierten. 1922 entstand die "Christengemeinschaft" als eine unabhängige Bewegung für religiöse Erneuerung, eine Freie Hochschule für Geisteswissenschaften mit Fachsektionen konstituierte sich am Goetheanum. Noch in seinen letzten Lebensjahren gab Steiner wichtige Anregungen für eine Anthroposophische Medizin (Krebs-Misteltherapie), eine biologisch-dynamische Wirtschaftsweise und vor allem für den biologischen Landbau. Am 30. März 1925 starb Rudolf Steiner im Alter von 64 Jahren in Dornach.

Die Gesamtausgabe von Steiners schriftstellerischem Werk beläuft sich auf über dreihundert Bände, die von der Rudolf Steiner Nachlaßverwaltung herausgegeben werden. Auch ohne diese alle gelesen zu haben, muß man anerkennen, daß Steiners Lehre weit mehr ist, als nur eine von vielen esoterischen Strömungen. Anstatt dem schon damals zeitgeistigen Trend zu folgen und die Gnosis des Orients "chic" zu finden, bei gleichzeitiger Ablehnung der christlich-europäischen Traditionen, versuchte er eine Brücke zu schlagen zwischen östlicher Weisheit und westlicher Erziehung, zwischen Orient und Okzident, und erteilte dem schwärmerisch-unkritischen Umgang mit dem Synkretismus der unbekannten östlichen Welt eine Absage. Ihn, den Evolutionisten, beschäftigte das ewige Schicksal des Menschen. Durch bewußte Schulung, zum Beispiel Meditationsübungen, wollte er ihn zur Initiation, zum kosmischen Logos führen. In der Menschwerdung Gottes, der "Christuswerdung", sah Steiner die zentrale Tatsache der Menschheitsentwicklung.

Dennoch hat er seine theosophische Herkunft nie verleugnet und in seine Lehre durchaus auch indische, gnostische, kabbalistische und esoterische Elemente integriert. So vereinigt seine Anthroposophie neben der Weltanschauung Goethes und der Entwicklungsidee des deutschen Idealismus kosmogonische Spekulationen, Himmelshierarchien, die Lehre von menschlichen "Wurzelrassen" und die Vorstellung einer Seelenwanderung.

Steiners Kampf galt dagegen zeitlebens dem "Drachen", jenem Sinnbild der Dunkelmächte einer neuzeitlichen Zivilisation, der als Feind des Menschengeschlechts "das innerste Wesen seiner Seele verschlingen will". Selbst wer gewissen seiner Thesen skeptisch oder ablehnend gegenübersteht, wird aus einer Auseinandersetzung mit der multidimensionalen Welt- und Menschensicht Rudolf Steiners großen geistigen Gewinn ziehen.


 
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