© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/00 31. März 2000

 
Stefan Scheil: Logik der Mächte
Immerwährende Kämpfe
Holger von Dobeneck

Der 1963 geborene Historiker Stefan Scheil gehört nicht mehr zu jener an moralischem Größenwahnsinn leidenden 68er Generation und nicht mehr zu jenen Berufsjugendlichen in den Redaktionsstuben von Spiegel und Zeit, die glauben, sie müßten sich um jeden Preis abgrenzen von der Vätergeneration. Statt dessen pflegt Scheil überdauernde Traditionen seiner Zunft, nämlich zu versuchen, sine ira et studio die wiederkehrenden Muster der Geschichte zu erkennen.

Im interessantesten Kapitel seines Buches "Logik der Mächte" setzt er sich mit geschichtsphilosophischen Thesen auseinander, vor allem denen Poppers und Fukuyamas, und er kommt ganz im Sinne Poppers zu dem Ergebnis, daß es eine Logik der Geschichte gerade nicht gibt und schon gar nicht ein zwangsläufiges Endziel Demokratie im Sinne Fukuyamas. Er schließt sich eher der herrschenden Interpretationsphilosophie an, die für das Fach Geschichte bedeutet, daß es im wesentlichen Interpretationsarbeit ist. Noch mehr macht er sich den Systemgedanken zu eigen, den Luhmanns gedanklicher Weltzugriff, wäre Luhmann ein längeres Leben beschieden gewesen, mit Sicherheit auch auf die Geschichte angewendet hätte. Scheil wendet sich somit ab von jener monokausalen Theorie der 68er, die alles und jedes nur aus der Singularität Hitlers ableiten wollen oder sich rückhaltlos in die Arme marxistischer Interpretation werfen. Vielmehr beschäftigt er sich mit den Gedanken von Henry Kissinger, Paul Kennedy, Ludwig Dehio und kommt zu dem Ergebnis, daß Geschichte zwar keiner Logik, aber doch gewissen Mustern folgt.

Paul Kennedy sieht diese Muster im "Aufstieg und Fall" von Mächten, der sich in der Geschichte wiederholt, Ludwig Dehio schrieb schon 1948 unter dem Titel "Gleichgewicht und Hegemonie", daß Geschichte als sich austarierendes System von Hegemonialbestrebungen ihrer Protagonisten begriffen werden kann.

Insofern stand Hitler in geschichtlicher Tradition. Scheil erinnert, daß schon Reichskanzler Bülow die Idee eines Kontinentalblocks mit Rußland vertrat, was zu einer ungeheuren Machtsteigerung Europas geführt hätte, genau dies war jedoch das Trauma Englands, das eine durch und durch destruktive Rolle spielte und jegliche Annäherung Deutschlands an Rußland durch Einkreisung zu unterbinden suchte. Es besteht daher eine gewisse Plausibilität für die These, daß der Erste Weltkrieg von seiten Deutschlands ein Präventivkrieg war, um dieser Einkreisung zu entgehen. Jedenfalls zählt nach Scheil das Vorliegen einer Kriegserklärung nur als formeller Grund, weist er doch nach, daß in diesem Jahrhundert viele Kriege ohne eine solche Erklärung verliefen. Die Sowjetunion griff ohne Kriegserklärung Finnland, Polen, Japan an, die USA warf ohne Kriegserklärung Bomben auf Vietnam, und auch in Bosnien und dem Kosovo gab es keine Kriegserklärung.

Scheil zeigt die gut dokumentierten Hegemonaialträume Hitlers auf, doch er weist auch darauf hin, daß trotz aller Kriegsbereitschaft Hitler den Krieg, den er führte, so nicht gewollt hat. Hitler glaubte sich noch 1937 in der Lage, einen großen Krieg zu seinen Lebzeiten vermeiden zu können. Er glaubte an die Existenz eines "Fensters der Gelegenheiten". Zu diesen Gelegenheiten zählte, daß im Westen längst eine Bereitschaft bestanden hatte, die Versailler Bedingungen zu revidiere, und selbst England die Berechtigung seiner Forderungen anerkannte. Einzig die Falken Churchill, Eden und Halifax (und im Hintergrund Roosevelt) bewirkten im Verbund mit Polen, daß sich die Fraktion der Kriegsbefürworter in England durchsetzen konnte. Nach dieser Interpretation war also Hitler eher in der Position eines Getriebenen denn eines Alleintäters. Die Mitschuld der Alliierten ergibt sich somit logisch aus dem Systemgedanken.

Auch Kissinger insistiert in seiner "Vernunft der Nation", daß es gerade die Bündnissysteme sind, die die Nationen in Kriege verstricken. Er charakterisiert Stalin als Machtpolitiker im Sinne Richelieus, Roosevelt als durchtriebenen Machiavellisten, Hitler als von irrationalen Emotionen getrieben und Churchill als skrupellosen Zyniker. Dieses Quartett pokerte um die Macht. Stalin sagte in einer Rede vor Offiziersanwärtern: "Unsere Artillerie ist eine Artillerie für Angriffsoperationen, wie ein wütender Sturm wird sie ins Feindesland eindringen und in ihrem mörderischen Feuer den Gegner vom Antlitz der Erde hinwegfegen." So sieht er Stalins Strategie offensiv und nur abwartend, daß sich Deutschland zuvor in einem Krieg mit den Alliierten aufreibt. Kissinger weist auch auf das stets präsente moralische Unterfutter der amerikanischen Politik hin und plädiert dafür, daß Amerika in der Weltpolitik sich seiner moralischen Hypertrophie enthält. Wohl ein vergeblicher Wunsch, drückt sich doch gerade in dieser Kreuzzugsmentalität die amerikanische Identität aus. Anders als Fukuyama sieht Kissinger in der Geschichte keine Endziele, sondern er sieht sie als ein "geregeltes Chaos", und die amerikanische Außenpolitik läßt sich auch als der Versuch verstehen, mehr Regeln in das System zu bringen.

So gesehen ist für Scheil im Kern die Politik Deutschlands im zweiten Dreißigjährigen Krieg eine der immerwährenden Hegemonialkämpfe der Geschichte. Neu war allerdings der Hitlerische Rassismus, doch auch diesen sieht Scheil in geschichtlicher Kontinuität und begreift ihn als deutsche Variante des amerikanischen Versuchs, seine Bevölkerung "WASP", das heißt weiß, angelsächsisch und protestantisch zu halten.

Innenpolitisch weist Scheil auf die auch von dem Historiker Rainer Zitelmann unternommene Interpretation hin, daß Hitler ein Revolutionär war, der ein tiefes Mißtrauen gegen die herrschende konservative Schicht hegte. So wenig Sympathien Hitler für das Auswärtige Amt, die Justiz und den Generalstab empfand, auf so wenig Gegenliebe stieß er bei hohen Offizieren. Für Generalstabschef Halder war er geradezu physisch widerwärtig und dieser versuchte vor 1939 vergeblich, das Ausland für einen Putsch zu gewinnen. Scheil kommt zu dem Ergebnis, daß deutsche Offiziere psychisch ungeeignet sind, sich machiavellistisch zu verhalten. Er sieht auch, daß sich die Struktur des nationalsozialistischen Herrschaftssystems nicht grundsätzlich wesensfremd zu bisherigen Strukturen verhielt und er erinnert daran, daß der begriffliche Gegensatz zur Diktatur nicht die Demokratie, sondern der Rechtsstaat ist und das Kaiserreich, dem viele Konservative nachtrauerten, wenn auch autoritär, so doch ein Rechtsstaat war.

Scheils "Logik der Mächte" hat alles in allem noch den Charakter vorläufiger Anmerkungen, doch ist nicht zu übersehen, daß er eine fundierte Vorarbeit für ein größeres theoretisches Werk geleistet hat.

 

Stefan Scheil: Logik der Mächte. Europas Problem mit der Globalisierung der Politik. Überlegungen zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, Duncker & Humblot, Berlin 1999, 241 Seiten, 68 Mark


 
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