© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/00 07. April 2000

 
Pankraz,
das Rednertalent und die Gebete des Perikles

Wolfgang Klein, der Fotograf der kleinen, feinen Bonner Glyptothek, hat jetzt durch raffinierte Aufnahmen der überlieferten Perikles-Büste plausibel gemacht, daß dieser schöne Kopf einst zu einer Gebets-Statue gehörte. Er zeigt den großen athenischen Strategen im Gebet, bei der Anrufung des Zeus. Perikles spricht hier zu Zeus, nicht zur "Ekklesia", nicht zur Volksversammlung, wie man bisher glaubte. Für die Verehrer der "ersten Demokratie der Weltgeschichte" ist das ein gelindes Ärgernis.

Aber hat Perikles die athenische Demokratie nicht insgeheim verachtet, vielleicht sogar gehaßt, jene Ekklesia, die oft so schnöde agierte und die seine besten Freunde, Anaxagoras, Protagoras, Phidias, aufs Schafott, in die Verbannung oder in den Kerker schickte? Man macht sich ja oft falsche Vorstellungen von dieser angeblichen Idealdemokratie im Morgenrot des Abendlandes.

Das klassische Athen war ein Nest von nicht einmal 150.000 Einwohnern, ungefähr so groß wie heute Heilbronn; davon waren mindestens zwei Fünftel Sklaven oder Metöken, also Beisassen, oder Fremde, die extra muros wohnten, und selbstverständlich hatten weder Metöken noch fremde Barbaren das mindeste in der Volksversammlung zu sagen, verfügten weder über Sitz noch Stimme, von den Sklaven ganz zu schweigen.

Von den 30.000 freien Bürgern hatten natürlich die Frauen und die jungen Männer bis zum dreißigsten Lebensjahr ebenfalls nichts zu sagen, so daß höchstenfalls acht- bis zehntausend Männer über dreißig übrigblieben. Diese Truppe also bildete die athenische Demokratie in der Hochzeit ihrer kulturellen Blüte. Es gab dort weder Gewaltenteilung noch wirkliche Exekutive. Die Ekklesia hielt alle Kompetenzen dicht zusammen; sie versammelte sich regelmäßig auf der Agorà, das heißt diejenigen Bürger versammelten sich, die gerade nichts besseres zu tun hatten, die genug Geld und/oder Sklaven hatten, um sich nicht selbst um ihren Haushalt, ihren "oikos", kümmern zu müssen.

Zusammengerufen wurde die Volksversammlung vom sogenannten "Rat der Fünfhundert", aber schon im Vorfeld wurden die jeweiligen Intrigen in diversen politischen Klubs ausgeheckt und abgesprochen, in den sogenannten "Hetärien", die so hießen, weil sie bei den Hetären tagten, im Edelpuff, wenn man will. Diese Edelpuffs waren die Vorläufer unserer modernen Parteien.

Die Männer der Exekutive, die Finanzverwalter und Polizisten ("Prytanen"), konnten von der Volksversammlung jederzeit abgesetzt werden, ihre Amtszeit war ohnedies kurz, und alle wurden durch das Los bestimmt, durch den Spruch des Orakels. Nur einer der Generäle ("Strategen") wurde aus irgendeinem von weither überkommenen Grund nicht per Los, sondern per Abstimmung gekürt, und dieser eine war über vierzig Jahre lang, eben über die ganze sogenannte klassische Periode hinweg, Perikles. Ihm fiel im Falle eines Krieges die absolute Befehlsgewalt zu, und da immer irgendwo Krieg geführt wurde, war Perikles faktisch der Herr Athens.

Freilich, die Volksversammlung konnte jeden Bürger, der ein bißchen herausragte, der sich auffällig gemacht oder etwas Besonderes geleistet hatte und nun also Neid und Mißtrauen erregte, per Abstimmung ("ostroi" = Scherbengericht) für zehn Jahre aus der Stadt ausweisen und in die Verbannung schicken. Keine Verfehlung des Ostrakisierten war dazu notwendig, keine ihm nachweisbare falsche, der Polis abträgliche Handlung; es genügte schon, daß der Betreffende der Mehrheit auffiel.

Die größten Staatsmänner und Feldherren sind ostrakisiert worden, just jene, die sich Ruhm für das Vaterland erworben hatten: Milthiades, der Sieger von Marathon, Themistokles, der Sieger von Salamis, Aristides, der Sieger von Platää. Alle diese Heroen wurden ohne das geringste Vergehen aus der Stadt hinausgeworfen.

Es gab keine unabhängige Rechtsprechung. Auch die Juristen wurden ad hoc aus der Mitte der Volksversammlung ernannt und konnten jederzeit wieder abgesetzt werden, und in schweren Fällen, etwa bei Gottlosigkeit, Landes- und Hochverrat, mißglücktem Feldzug, ernannte sich die Ekklesia in toto zum Gerichtshof, und es gab da keinen Ankläger, keinen Verteidiger, keinen professionellen Richter, sondern faktisch jeder war Staatsanwalt, Verteidiger und Richter zugleich. Der Spruch hing ganz und gar von der aktuellen Stimmung der Volksversammlung ab, so daß dabei – wie das schon Max Weber völlig richtig gesehen hat – allenfalls eine "Kadijustiz" herauskam.

Auch der große Perikles war selbstverständlich der Volksversammlung voll verantwortlich und hatte seinerseits auch nur eine einzige Stimme in ihr. Daß er sich als Wahlbeamter so lange halten konnte, wirkte wie ein Wunder. Doch Perikles verfügte eben auch über eine Wunderwaffe, die paßgenau auf die Athener ausgerichtet war: seine Rednergabe, welche er in wahrhaft überwältigender Weise einzusetzen wußte. Erhalten ist dank Themistokles seine große Leichenrede auf die ersten athenischen Toten des Peleponnesischen Krieges, und das ist in der Tat eine Jahrtausendrede, die Rede der Reden.

Perikles war der alle überschattende demagógé, der größte Volks-(ver)führer der klassischen Epoche, und darauf beruhte seine Macht. Er scheint nie jemanden mit Geld bestochen zu haben, und mit Ämtern bestechen konnte er nicht, da diese durch das Los festgelegt wurden. Allein der Gewalt seiner Rede hat er vertraut, die er mit den abgefeimtesten Methoden der Demagogie, auch des Lügens, des Täuschens, des Tatsachenverdrehens, zu salben wußte.

Seine Gebete an Zeus mögen da nicht zuletzt eine Atempause und rhetorische Erholung von diesem harten Geschäft gewesen sein, ein semantischer Kuraufenthalt gewissermaßen, eine Art Mundspülung. Wie schön nun zu wissen, das allein das Bild des betenden, spülenden Perikles auf uns gekommen ist!


 
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