© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/00 07. April 2000

 
Der jüngste Klassiker
Reflexionen über die Carl-Schmitt-Forschung anläßlich des 15. Todestag des Staatsrechtlers
Piet Tommissen

Ich glaube, daß bei Ihnen immer Nebenabsichten vermutet werden, auch wenn Sie über ein Glas Wasser schreiben." So urteilte Ernst Jünger in seinem Brief an Carl Schmitt vom 1. Juli 1956. Man kann diesem Urteil nur beipflichten, denn es erklärt zwar nicht den Umfang der noch immer nicht abflauenden Literatur über Schmitts Positionen und Begriffe, wohl aber den spekulativen Charakter der Deutungen des Werkes oder von Teilen desselben, sowie die Intentionen, die dem Gelehrten untergeschoben werden.

Langsam aber sicher wird jedoch deutlich, daß die meisten dieser Publikationen am Mangel an Recherchen kranken, so daß in diesem Fall eine Paraphrase eines bekannten Ausspruchs des Rechtsgelehrten Julius von Kirchmann aus dem Jahre 1848 durchaus angebracht scheint: "Einige neue Quellen und dreiviertel der Schmitt-Literatur wird zu Makulatur." Diese Behauptung läßt sich anhand von zwei Beispielen belegen.

Als erstes Beispiel wähle ich Schmitts Verhalten im Krisenjahr 1932: Die noch immer vorherrschende Theorie stimmt einfach nicht. Vor kurzem ist in dieser Zeitschrift (JF 12/00) über die Berliner Dissertation von Lutz Berthold gesagt worden, sie räume "gründlich mit der Legende auf, Schmitt sei ein Wegbereiter der nationalsozialistischen Machtergreifung gewesen". Weitere Belege für die Richtigkeit dieser neuen Sicht bringt der Beitrag von Gabriel Seiberth im Band "Schmittiana VII" (wird Ende dieses Jahres von Duncker & Humblot in Berlin ausgeliefert).

Mein zweites Beispiel ist Schmitts erste Ehe: allmählich wird deutlich, daß Ernst Hüsmert recht hat und wir es mit dem eigentlichen Arkanum des Gelehrten zu tun haben. Im Band "Schmittiana V" (S. 176–182) habe ich Bausteinchen für eine Rekonstruktion dieser Affäre zur Verfügung gestellt. Die von Hüsmert betreute Edition der Briefe und Postkarten, die Schmitt seiner Schwester Auguste zwischen 1905 und 1913 zugeleitet hat (erscheint im Herbst dieses Jahres im Akademie Verlag, Berlin), enthält weitere unbekannte Einzelheiten. Und im Nachlaß des Kirchenhistorikers Wilhelm Neuß (Universitätsarchiv Bonn) gibt es einen aufschlußreichen Brief von Schmitt sowie ein wichtiges Schreiben der zweiten Frau Schmitts, zwei Dokumente, die die Arkanum-These zu erhärten geeignet sind.

Carl Schmitt war kein Heiliger, und infolgedessen ist Hagiographie vom Übel. Andererseits hat er ein Anrecht auf eine korrekte, d. h. auf Tatsachen gestützte Behandlung seines Falles. Zu dieser Schlußfolgerung kamen – wenige Tage vor seinem Tod am 7. April 1985 – Günther Krauss, der treue Schüler, und ich, nach einer stundenlagen Unterhaltung in Köln. Wir hatten berechtigten Grund, Distanz zu wahren, haben es allerdings nicht getan, denn, so faßte Krauss das Ergebnis unserer Überlegungen zusammen, "in Sachen Schmitt überragt das Positive bei weitem das Negative".

Daß wir das richtige Fazit gezogen hatten, wurde mit klar, als der inzwischen verstorbene Kollege Bernard Willms in Speyer (Schmitt-Seminar 1986) Schmitt als den jüngsten Klassiker politischen Denkens vorführte. Inzwischen hat Rudolf Weber-Fas, ein ehemaliger Bundesrichter, sich mit seinem Buch "Über die Staatsgewalt" (Beck, München 2000) an ein breites Publikum gewandt und Schmitt als den vorläufig letzten der hervorragenden Denker behandelt, "die für die Entwicklung der abendländischen Staatsgewalt grundlegend wurden". Solche Initiativen von berufener Seite lassen aufhorchen.

Dennoch mache ich mir keine Illusionen über die Wirkung dieser Reflexionen. Schmitt wird auch weiterhin für viele ein Stein des Anstoßes bleiben. Ihnen zuliebe sei der Brief meines Landsmanes Victor Leemans an Schmitt aus dem Jahr 1950 erwähnt. Vielleicht steckt darin als Re-Zitat ein Schlüsselsatz, der das Selbstverständnis des Staatsdenkers charakterisiert: "Wir haben kein Reich mehr, nur noch einen Führer. Die Rechtssicherheit ist dahin", wie Schmitt 1941, im Zenit der äußeren Machtentfaltung des Reiches, urteilte.

 

Prof. Dr. Piet Tommissen, 75, lehrte an der Wirtschaftshochschule Sint-Aloysius in Brüssel. Der in Flandern lebende Tommissen beschäftigt sich seit rund 50 Jahren mit Carl Schmitt.


 
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