© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/00 07. April 2000

 
Theoretiker des konkreten Lebens
Die Bedeutung George Sorels für das Denken Armin Mohlers
Karlheinz Weißmann

Der "Mythos", das "Schlachtengemälde", das spontan entsteht und mobilisierende Wirkung auf die Massen ausübt, das ihnen jenen "Glauben" einflößt, der zu heroischen Taten fähig macht und ein neues Ethos begründet, gehörte zu den Angelpunkten im Denken Georges Sorels (1847–1922). Dieser politische Theoretiker übte mit seinen Artikeln und Büchern vor dem Ersten Weltkrieg einen verstörenden Einfluß sowohl auf Sozialisten wie auf Nationalisten aus. Allerdings waren das Interesse am Mythos und auch sein Bekenntnis zu einer asketischen Moral für die politische Linke, der er sich selbst zugerechnet hatte, immer – oder doch je länger, je mehr – Steine des Anstoßes. Man kann das ablesen an den Rezeptionsversuchen, die es Ende der sechziger Jahre gab. Während eine Strömung der Neuen Linken Sorel ausdrücklich in Anspruch nahm und gerade seine "direkten Aktion" und die anarchistische Vorstellung von kleinen Gemeinschaften freier "Produzenten" als Vorwegnahme eigener Konzepte betrachtete, sah eine größere Gruppe in ihm nur den ideologischen Wirrkopf, der mit seiner unziemlichen Berufung auf Marx der Gesamtbewegung mehr Schaden als Nutzen gestiftet hatte. Daß Jean-Paul Sartre diese zweite Auffassung vertrat, gab ihr natürlich besonderes Gewicht.

Wenn Mohler parallel zu der Entwicklung auf der Linken ein stärkeres Interesse für Sorel zeigte, dann nicht, weil er sich für einen "Propheten des Bombenlegens" (Ernst Wilhelm Eschmann) begeistert hätte oder glaubte, Sorels Hoffnung auf die regenerierende Kraft des Proletariats könne in der Gegenwart irgendeine Bedeutung haben. Ihm ging es vielmehr um ein Vorbild im Kampf gegen die Dekadenz. Er wollte Sorels starken "Pessimismus" gegen einen schwachen Pessimismus wenden, wie er sich gerade auf Seiten der Bürgerlichen verbreitete.

Hatte er schon früh die "gärtnerische Auffassung des Konservatismus" kritisiert, so glaubte er jetzt, daß in der veränderten Situation alles "Bewahren" absurd werde. Die intellektuelle Rechte dürfe auch nicht damit zufrieden sein, gesunden Menschenverstand gegen Überschwang zu predigen und aufzuklären über die Aufklärer, sie müsse ihrerseits ideologiefähig werden, die ihr selbst in den Knochen steckende Dekadenz begreifen und mit ihr aufräumen, bevor sie irgendwelche Aussicht auf Durchsetzung ihrer Position haben könne.

In Mohlers Porträt Sorels, das zuerst 1973 in der Zeitschrift Criticón erschien, hieß es, daß die Konservativen diesen seltsamen Franzosen als Vorbild für den Widerstand gegen die "idealistische Desorganisation" betrachten sollten. Mohler teilte Sorels Verachtung für gesinnungsethische Exzesse: im Frankreich der Jahrhundertwende das Triumphieren der Dreyfusards und die Verständnislosigkeit der "Radikalen" für die eigentlichen Fundamente des Gemeinwesens, am Ende der sechziger Jahre in der Bundesrepublik das große Emanzipations- und Bewältigungsfieber, das auch die "Mitte" erfaßte.

Neben diesen aktuellen Bezügen gab es aber vor allem prinzipielle Gründe, Sorel neu zu entdecken. Sorels Antiliberalismus und Dezisionismus hatten Mohler beeindruckt und vielleicht stärker noch die "Unklarheit" seines Denkens. Mohler meinte, daß diese "Unklarheit" ganz "in der Sache" liege und eine eher beschreibende als analysierende Sprache nötig machte, zumal es um "das Verklammern von scheinbar Auseinanderklaffendem, das Tasten nach den unterschwelligen und fernhin tragenden Gegenströmungen" gehe. Sorel habe etwas zum ersten Mal formuliert, was sich überhaupt nur schwer auf den Begriff bringen lasse: die Tatsache, daß die Antriebe im Menschen – vor allem die edelsten – schwer zu klären seien, daß die sauberen gedanklichen Lösungen oft in der Anwendung scheitern müssen, daß die kompletten Welterklärungsmodelle keine vorwärtstreibende, sondern eine lähmende Wirkung ausüben.

Mohler fühlte sich von Sorels Denkstil angezogen, von der assoziativen Kraft seiner Darstellung, aber er war auch davon überzeugt, daß dieser Stil von der erwähnten "Sache" untrennbar sei. Die Sache hat er mit Hilfe der Begriffe "organische Konstruktion" und "heroischer Realismus" näher zu bestimmen versucht. Beides verweist auf Ernst Jünger, den Mohler zu den "deutschen Schüler" Sorels zählte. Bei Sorel entdeckte Mohler wieder, was er bei dem Jünger der nationalistischen Manifeste und der ersten Fassung des "Abenteuerlichen Herzens" schon einmal gefunden hatte: die Entschlossenheit, sich mit den Verlusten abzufinden, ein Neues zu wagen und – im Gegensatz zu den Utopien der Linken – auf die Kraft der schöpferischen Entscheidung und den Gestaltungswillen zu vertrauen, der sich bei allem Enthusiasmus der Bedingungen bewußt bleibt und gegen das Gestaltlose das Geformte setzt.

Was bei Sorel wie bei Jünger im Hintergrund wirksam war, hat Mohler als "’nominalistischen‘ Affekt" bezeichnet: die Wendung gegen die "All-Gemeinheiten", den billigen Universalismus, der immer für seine guten Absichten belohnt werden möchte, die hochtrabenden Redeweisen, die nichts mit der konkreten Wirklichkeit zu tun haben. Der "nominalistische Affekt" hatte sein Interesse an Sorel geweckt und führte dann dazu, daß er seine Beschäftigung mit diesem Denker immer weiter fortsetzte.

1975 erschien die etwas untertreibend als "Bio-Bibliographie" bezeichnete Abhandlung Mohlers über Sorel. Mohler nutzte die Herausgabe eines in der Privatdruckreihe der Siemens-Stiftung erscheinenden Bändchens über Sorel von Julien Freund, um auf dreißig (in kaum lesbarer Enge bedruckten) Seiten nicht nur das umfassendste deutsche Verzeichnis der Schriften von und über Sorel vorzulegen, sondern auch, um einen Aufriß seines Lebens und Denkens zu liefern.

Mohler hat diesen Text, in dem zuerst ein genauer Phasenverlauf der geistig-politischen Entwicklung Sorels vorgelegt und auf dem Hintergrund die exzentrische ideologische Position Sorels verständlich gemacht wurde, ursprünglich als Ausgangspunkt für eine Monographie über Sorel betrachtet, in der das von ihm jahrzehntelang mühevoll gesammelte und ausgewertete Material verarbeitet werden sollte. Dazu ist es nicht gekommen. Deshalb entschloß sich Mohler zuletzt, seine Ergebnisse in einem umfangreichen Essay und dann in einem dreiteiligen Aufsatz vorzulegen, der 1998 wiederum in der Zeitschrift Criticón erschien. Das Ergebnis seiner Analyse läßt sich knapp in fünf Punkten zusammenfassen:

• Von Sorel als dem "Erzvater der Konservativen Revolution" sprechen, heißt, seinen Vorrang bei der Entstehung jener geistigen Bewegung anerkennen, die nach ihrem Selbstverständnis "weder rechts noch links" war, sondern versuchte, eine "neue Kultur" zu schaffen, die an die Stelle der verbrauchten Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts treten sollte. Diese Bewegung war ihrem Ursprung nach eine intellektuelle, die keineswegs allein über die Ablehnung – etwa des Liberalismus oder der Aufklärung – begriffen werden kann.

• Es lassen sich prinzipiell der romanische "Faschismus" wie der deutsche "Nationalsozialismus" als Realisierungsversuche dieses Konzepts betrachten, allerdings handelte es sich um Häresien, die einen wesentlichen Grundgedanken der "Konservativen Revolution" übersprangen, nämlich den aus dem Fundus der klassischen Rechten mitgenommenen Vorbehalt gegen die natürliche Güte des Menschen und die "Machbarkeit" der Welt.

• Sorels Funktion war in erster Linie eine katalytische, aber in seinem Denken findet sich schon alles, was später in den familles de pensée der Konservativen Revolution ausgearbeitet wird: die Verachtung der "kleinen Wissenschaft" und die Hochschätzung der irrationalen Antriebe im Menschen, die Skepsis gegenüber der Abstraktion und die Feier des Konkreten, das Bewußtsein, daß es keine Idylle gibt, und die Lust an der Dezision, die Auffassung, daß das genügsame Leben den Namen nicht verdient und das Bedürfnis nach "Monumentalität".

• Hierher gehört auch das Wissen um die "Sinnlosigkeit" des Daseins, oder besser: das Wissen um die Unmöglichkeit, den Sinn des Daseins sicher zu erkennen. Daraus folgt die Annahme, daß Sinn immer nur "gefunden" (nicht erfunden!) werden kann, sich jedenfalls nicht von selbst ergibt, daß die Fähigkeit zur Sinnstiftung nur wenigen und wenigen Epochen vorbehalten ist, daß der "Mythos" das Zentrum einer Kultur bildet und sie ganz durchdringt.

• Alles hängt schließlich davon ab, daß sich Sorels Vorstellung von Dekadenz – deren Wahrnehmung die verschiedenen Strömungen der Rechten einte – unterschied von den üblichen Modellen: der Entropie ebenso wie dem Zyklus, der klassischen Lehre von der Verfassungsfolge oder der Behauptung eines "organischen" Niedergangs jeder Kultur. In den "Illusionen des Fortschritts" behauptet Sorel, es sei "Scharlatanerie und Naivität, wenn man von historischem Determinismus spricht": Dekadenz ist immer Verlust des inneren Halts, die Aufgabe des Willens zur Regeneration. Ohne Zweifel war und ist Mohlers Darstellung Sorels auf eine Weise zugespitzt.

Es gibt ganze Felder seines Denkens, die Mohler nicht interessiert haben, auch über die offensichtlichen Lücken – vor allem im Hinblick auf die "Verfahren", die in einer neuen Gesellschaft zur Anwendung gebracht werden sollten – und die Vieldeutigkeit mancher Begriffe ist er hinweggegangen. Aber wenn er bei Sorel so viel von dem gefunden hat, was ihn selbst beschäftigte, so wird man dieser Parallelisierung doch keine Gewaltsamkeit nachsagen können. Die Geistesverwandtschaft besteht tatsächlich darin, daß Mohler wie Sorel "eine Theorie unmittelbaren konkreten Lebens" (Carl Schmitt) suchen.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium. Bei seinem Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung eines Beitrags für das im Herbst erscheinende Buch von Armin Mohler: George Sorel. Perspektiven (Edition Antaios).


 
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