© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/00 14. April 2000

 
Die Stasi-Akten bringen auch Licht in das Dunkel westdeutscher Vergangenheit
Die unbequeme Wahrheit
Paul Leonhard

Demokratie hat etwas mit Aushalten zu tun. Auch mit dem Aushalten unbequemer Wahrheiten. Selbst wenn sie von jenen Tonbandprotokollen stammen, die Mielkes Mannen der Bundesrepublik hinterlassen haben und die natürlich auf eine Art und Weise entstanden sind, die nichts mit rechtsstaatlichen Maßstäben zu tun hat. Aber sie besitzen dokumentarischen Wert. Zumal sie von der Stasi höchst unfreiwillig hinterlassen wurden.

Die Informationssammelwut der Stasi hatte auch ihr Gutes. "Worte, die sonst wär’n verschollen, bannt ihr fest auf Tonbandrollen", reimte einst der Liedermacher Wolf Biermann in seiner Stasi-Ballade und verglich im Refrain die Schlapphüte mit dem Vertrauten Goethes "die Stasi ist mein Eckermann". Sicher, die Literaten haben es einfacher. Sie leben davon, daß ihre Worte einer möglichst breiten Öffentlichkeit bekannt werden. Politiker und erst recht Wirtschaftsbosse bleiben da lieber im Dunkeln. Zu Lebzeiten von ihnen erscheinende Biographien sind immer Stückwerk, sorgsam abgewogen.

Die Mächtigen der alten Bundesrepublik konnten lange Zeit hochmütig auf die Aufdeckungsarbeit der Gauck-Behörde schauen. Glaubten sie doch alles Brisante vernichtet. Wie gut sie selbst die Medien im Griff hatten, zeigt allein die Tatsache, daß erst jetzt ein Beschluß des Kohl-Kabinetts publik bzw. in seiner ganzen Bedeutung erkannt wurde: die im Mai 1990 beschlossene Vernichtung von Protokollen der Staatssicherheit, die dem Westen in die Hände gefallen waren. Da glaubte man im Westen vollenden zu können, was die Männer von Markus Wolf nicht gründlich genug schafften, weil die Reißwölfe heißgelaufen den Dienst versagten oder einige Offiziere Akten an den Verfassungsschutz verkauften. Ironie der Geschichte: Zumindestens in den Monaten Mai und Juni schredderten Stasi und Verfassungsschutz gemeinsam, die einen in der noch existierenden DDR, die anderen in der Bundesrepublik. Ausnahme das Land Berlin, das der Weisung aus Bonn nicht folgte.

Objekt der Vernichtung waren die Abhörprotokolle westdeutscher Politiker. Das Ziel war parteienübergreifend: Spurenbeseitigung. Daran waren alle bürgerlichen Parteien im Westen interessiert.

Später war das nicht mehr legal möglich, denn das Stasi-Unterlagengesetz war in Kraft getreten. Das Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik datiert vom 20. Dezember 1991. Schon damals ahnte Helmut Kohl, daß die Akten, die er lieber zerrissen hätte, einmal die Atmosphäre vergiften würden. Aus heutiger Sicht glaubt man zu ahnen, warum sich Kohl damals so gegen die Verabschiedung dieses Veröffentlichungsgesetzes sperrte, Aber damals war der Druck der DDR-Bürgerbewegung groß. Die wollte nicht auch noch auf das Recht der Aufarbeitung der durchlittenen DDR-Geschichte verzichten. Auch große Teile der CDU unterstützten diesen Wunsch.

Ein Zugeständnis der Politik mit brisanten Spätfolgen. Ein Zeitzünder, der zehn Jahre im Verborgenen tickte. Spätestens nachdem bekannt wurde, daß die Akten der Hauptaufklärung Abwehr sowohl in Rußland als auch in den USA gelandet waren, hätten die Alarmglocken läuten müssen. Die Abhörspezialisten der Stasi hielten sich nicht an die bürgerlichen Regeln. Für sie galt nur, den Klassenfeind auszuspionieren. Von der friedens- und entspannungsfördernden Arbeit seines Dienstes spricht der frühere Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), Markus Wolf, noch heute.

Das Erbe eines untergegangenen Geheimdienstes birgt aber immer Sprengkraft, zumal wenn Politikerklüngel nicht mehr Einfluß haben, was an die Ohren der Regierten dringen darf und was nicht, wenn die gegenseitige Rücksichtnahme zum Schaden der Gesellschaft nicht mehr gilt.

Das ist die große Angst: Daß auf einmal all die privaten Affären, Geschäftsinteressen, Verfehlungen und kriminellen Praktiken bekannt werden, die auf Tonbändern schlummern. Wer kann den schon einschätzen, welchen Schaden vielleicht auch ehemalige Kanzler wie Schmidt und Brandt nehmen würden?

Die Abschätzung der Folgen hängt vom persönlichen Standort ab. Das Klima in Deutschland könnte in negativster Weise verändert werden, glaubt Kohl. Ein bestimmtes Maß an Verdrängung und historischer Unschärfe kann sich eine Demokratie leisten, kapitale Lebenslügen auf Dauer nicht, warnt der frühere Dissident Wolfgang Templin.

Also auf den Tisch mit der Akte Kohl. Warum sollen die Abhörprotokolle nicht der Wahrheitsfindung dienen? Aus der Illegalität ihrer Beschaffung folgt nicht automatisch ein Verwertungsverbot.

Für die Jagd nach den in der DDR untergetauchten Ex-Terroristen der Roten-Armee-Fraktion dienten die Stasi-Akten ebenso wie bei der Aufklärung der Anschläge auf das Maison de France und auf die Diskothek La Belle in Berlin. Niemand zweifelte da an den Papieren und Protokollen. Auch im Fall von PDS- und SPD-Politikern wurden immer wieder Stasi-Akten veröffentlicht. Warum soll das im Fall Kiep/Kohl/Lüthje alles anders sein? Warum das Gezeter? Was könnte ans Licht der Öffentlichkeit schwappen? Was befürchtet ein Ex-Kanzler, der sein Ehrenwort über geltendes Gesetz stellt, daß er der Gauck-Behörde gleich mit dem Bundesverfassungsgericht droht, falls sie die Akte Kohl wie im Gesetz vorgesehen aufbereitet. Es gibt längst Gerichtsentscheidungen und Bundestagsbeschlüsse, die den Umgang mit Abhörprotokollen regeln. Das Gesetz regelt die Verwertung von Informationen über einen bestimmten definierten Personenkreis. Darunter fallen auch Personen der Zeitgeschichte wie Helmut Kohl. Eine Ausnahmeregelung für einen Altkanzler darf es in einer Demokratie einfach nicht geben. Selbst wenn der Mann tatsächlich seit seinem 20. Lebensjahr von der Stasi beobachtet wurde.

Der Fall der Mauer wird so, wenn nicht ein Deckel auf die Akten gelegt wird, mit einer gewissen Verzögerung nun doch auch die westdeutschen Verhältnisse zum Tanzen bringen. Wer glaubte, Aufarbeitung und Reflexion beschränke sich allein auf die Beitrittsländer wird sich nun enttäuscht sehen. Und das ist gut so.

Wenn es stimmt, daß Mielkes Lauscher Mielkes Gespräche über politische Aktivitäten, Personalentscheidungen, Fragen der Parteienfinanzierung und private Angelegenheiten abgehört und aufgezeichnet hat, sollten letztere weggeschlossen werden. Alles andere aber veröffentlicht werden. Dann wird es wieder richtig spannend in Deutschland. Für eine nachrückende Politikergeneration wäre es und ein Fingerzeig, es mit der Transparenz in der Politik ernst zu nehmen.


 
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