© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/00 14. April 2000


Institutsleiter Hans-Jörg Bullinger über den Fachkräftemangel in der Informations-Technologie-Branche und die "Green Card"
"Sie werben uns die Leute ab"
Jörg Fischer

Herr Bullinger, Bundeskanzler Schröder will mittels 20.000 "Green Cards" die deutsche Personallücke bei Informatikern schließen. Gibt es diese Personallücke von 75.000 Spezialisten, wie nicht nur der Branchenverband BITKOM meint?

Bullinger: Es ist schwierig, so eine Personallücke genau anzugeben, aber die Größenordnung stimmt. Auch an meinem Universitätsinstitut und an meinem Fraunhofer-Institut ist es so, daß wir jede Menge Abwerbungen haben. Bislang war es so, daß jemand fünf, sechs Jahre bleibt und dann in die Wirtschaft wechselt. Damit können wir umgehen. Aber wenn man so einen Wissenschaftler zwei Jahre ausgebildet hat und der dann abgeworben wird zu Gehältern, die einem Professorengehalt entsprechen – nicht, daß man das denen nicht gönnt –, aber dann sieht man eben, daß der Personalmangel Realität ist.

Laut der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg gibt es über 57.000 arbeitslose Ingenieure in Deutschland, in der EU noch viel mehr. Sind diese Ingenieure alle wirklich "bildungsunfähig"?

Bullinger: Es wird schwierig sein, einen 56jährigen Hütteningenieur so umzuschulen, daß er jetzt plötzlich der große Guru in der Informatik ist. Doch auch das passiert. Wir arbeiten an einem Modellversuch, solche Umschulungen für Konstrukteure zu machen. Auch da klagt die ganze Wirtschaft, sie bekomme keine Konstrukteure. Auf der anderen Seite gibt es ein paar tausend Arbeitslose. Bildungsunfähig sind die sicher nicht, aber sie müssen auch bildungswillig sein. Mit 58 oder 60 sinkt die Bereitschaft, was grundsätzlich neues zu machen. Man muß also auch die Altersstrukturen beachten, gerade in solchen Bereichen, wo die Technologien sich sehr schnell verändern. Vor zehn, fünfzehn Jahren konnte man als guter Konstrukteur noch gut ohne CAD auskommen. Heute ist das schwierig. In der Wirtschaft besteht nicht nur ein Engpaß bei Informatikern wie Computerspezialisten oder Medienspezialisten. Ich denke, man muß jetzt da beginnen, wo man das größte Problem hat. Und weil man sich ja mit diesem Einladen von ausländischen Arbeitskräften sicher auch verschiedene andere Probleme mit ins Haus holt, ist es ja wohl vernünftig, daß man dann nicht gleich alle Schleusen öffnet, sondern einen Modellversuch macht, um zu sehen, wie man das handhaben kann. Da gibt es noch viele offene Fragen.

Wenn Qualifikation mit 50 schwierig wird, dann ist doch eine "Rente mit 70" – wie kürzlich vom Unions-Fraktionschef im Bundestag, Friedrich Merz, vorgeschlagen – eine Illusion, oder?

Bullinger: Wir sind weit davon entfernt zu meinen, daß ein 50jähriger nicht mehr umgeschult werden könnte. Aber wenn ich in einem Sozialsystem bin, wo ich weiß, ich gehe mit 62 oder 63 in Rente, da geht es nicht nur um die Frage der Bildungsfähigkeit, sondern auch um die Frage der Bildungswilligkeit. Und dann gibt es eben Menschen, die sind aufgeschlossen, die sagen, ich mache eine Umschulung, auch wegen zwei oder drei Jahren. Und es gibt eben welche, die sagen, jetzt hat mich das Arbeitsleben 40 Jahre getragen, jetzt trägt es mich auch noch fünf Jahre ohne dieses neumodische Zeug, wenn ich es mal so umgangssprachlich sagen darf. Es nicht so, daß die Arbeitslosen nicht bildungsfähig wären – man muß die Bildung nur ganz anders vermitteln als bei einem 20jährigen, dann könnte man noch viel erreichen.

Momentan gibt es Streit darüber, ob die angeworbenen Informatiker auf Dauer in Deutschland bleiben können oder sollen. Was halten Sie davon?

Bullinger: Man hat auch mal geglaubt, die Italiener würden wieder schleunigst nach Italien zurückgehen. Meine persönliche Meinung ist, wir werden es nicht schaffen, einen Informatiker, dessen Kinder gerade in Deutschland die Schule anfangen, wieder zurück zu schicken. Die Annahme, daß die alle wieder zurückgehen, halte ich für völlig unrealistisch. Das ist ja auch der Unterschied zur USA. Wenn Sie in Amerika eine Green Card haben, besitzen Sie ganz andere Rechte als bei uns. Daher stimmt der Begriff "Green Card" gar nicht, denn es soll ja nur eine limitierte Aufenthaltserlaubnis sein. Doch ist das attraktiv für einen guten Programmierer, der die Option hat, in die USA oder zu uns zu gehen? Da wird er die USA vorziehen. Wir haben heute Studierende aus Osteuropa oder Asien. Die studieren zum Teil auf Stipendien des deutschen Staates. Dann sind die fertig und wollen bei mir im Institut arbeiten oder in einer Firma, wo sie die Diplomarbeit gemacht haben. Das dürfen die aber nicht. Dann sagen wir, du mußt wieder heim nach Bangladesh oder heim nach Tschechien, um deinem Volk dort zu helfen. Nur macht er das leider nicht. Der geht nach Amerika. Die nehmen ihn mit Handkuß. Bei uns ist er ausgebildet worden, und es hat nichts gekostet.

Wie lange dauert der Boom in der Informatikbranche an?

Bullinger: Es geht natürlich nicht nur um die Softwareindustrie, um das bißchen, was man in Deutschland noch hat. Auch im Hardwarebereich werden Informatiker gebraucht werden. Daimler-Chrysler entwickelt Technik, und die bedarf der Informatiker, das Internet-Banking der Bank24 oder der Allianz bedarf der Informatiker, d.h. wir haben einen enormen Bedarf auf lange Zeit, überall dort, wo dieses Informatikwissen mit Anwendungswissen gepaart wird.

In einer Marktwirtschaft regelt sich Knappheit über den Preis. Ist die Forderung nach der "Green-Card" nicht auch eine Art verdeckte "Lohnbremse" für deutsche oder EU-Arbeitnehmer?

Bullinger: Wir sind wohl ein interessanter Arbeitsmarkt für Engländer, weil die heute – etwa bei Siemens oder IBM – deutlich mehr verdienen als in Großbritannien. In den USA gibt es in den Informatikbereichen einen völlig anderen Trend, der auch bei uns beginnt. Die neuen Firmen geben ihren Mitarbeitern Aktienoptionen, damit bekommen sie selbst Spitzenleute von der IBM oder von Debis. Die verdienen zwar weniger, aber sie setzen ihre Hoffnung auf die Aktienoptionen, die man dort mit einbindet. Zur Frage der Lohnbremse kann ich nur berichten, daß alle Wirtschaftsvertreter in der D21-Runde beim Bundeskanzler geschworen haben, daß das nicht das zentrale Argument sei und daß man sehr wohl willens sei, die Leute nach deutschen Standards zu bezahlen. Daß aber ein Arbeitgeber in der Zukunft wie in der Vergangenheit, wenn er die gleiche Leistung von jemandem billiger bekommt, die gleich gute und billigere nimmt, ich glaube, davon können wir ausgehen.

Der Internet-Boom in den USA war schon vor Jahren deutlich zu erkennen, der Bedarf für Informatiker also absehbar. Sind die deutschen Bildungspolitiker von schwarz bis grün alle blind gewesen?

Bullinger: Es hat sich ja niemand aufgeregt, daß in Deutschland mehr Leute Soziologie und Psychologie studierten als Naturwissenschaft und Technik. Diese Debatte ist erst jetzt hochgekommen. Ich bin aber sicher, daß die technikfeindliche und unternehmerfeindliche Debatte eine unglückliche Diskussion war. Das hat ja beides miteinander zu tun – der Techniker, der dem Unternehmer hilft, seinen übermäßigen Profit zu erarbeiten – das hat natürlich zu starken Beeinflussungen an den Schulen geführt. Und ein weiteres kommt dazu: Der Schweinezyklus, wie die Ökonomen sagen. Mal wird ein Studiengang empfohlen, weil ein aktueller Bedarf da ist, da rennen sie dann alle hin. Doch bis die Ausbildung abgeschlossen ist, hat sich der Bedarf wieder verlagert. 1989 bis 1992 gab es jede Menge arbeitsloser Techniker, und Firmen, die sonst im Jahr 2.000 Ingenieure eingestellt haben, stellten plötzlich nur drei oder vier ein. Ich erwarte ja von niemandem, daß er weitere 2.000 auf Vorrat einstellt, aber eine gewisse Kontinuität im Einstellungsverhalten hätte ich damals schon erwartet. Auch die Industrie ist an dem momentanen Fachkräftemangel mitschuldig.

In Japan gibt es eine staatliche Agentur, die in die Zukunft plant. Brauchen wir ein deutsches MITI?

Bullinger: Ich denke, der Stern des MITI sinkt. Wir brauchen mehr Dialog und Diskurs zwischen Schulen, Universitäten und der Wirtschaft. Die armen Bildungspolitiker, woher sollen die es denn wissen? Man muß da stärker miteinander ins Gespräch kommen.

Hat Japan auch Probleme, Spezialisten zu finden?

Bullinger: Alle westlichen Länder haben da ihre Probleme, aber die Japaner legen schon in der Schule mehr Wert auf Mathematik und Naturwissenschaften, und haben daher weniger Probleme als wir. Ich halte das japanische Schulsystem aber nicht für übertragbar und in keiner Weise wünschenswert für Deutschland.

Die Spezialisten aus der dritten Welt wurden oftmals mit Entwicklungshilfe aus Deutschland, der EU oder der UNO ausgebildet. Jetzt sollen sie in Deutschland arbeiten, aber dieser "Brain-Drain" wirft die Länder noch weiter zurück. Ist das zu verantworten?

Bullinger: Es ist eine Illusion zu glauben, daß die das tun. Man muß andere Modelle finden. Fakt ist, wenn der Spezialist nicht zu uns kommt, dann geht er eben in die USA. Um das zu verhindern, wäre eine internationale Vereinbarung nötig, aber nicht eine deutsch-tschechische oder deutsch-indische, zumindest eine EU-weite, noch besser eine internationale. Dann könnte ich mir vorstellen, daß so was wirkt. Man könnte auch Regelungen für fünf Jahre oder zehn Jahre treffen, aber es darf nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung kommen.

Die USA spionieren nicht nur – wie kürzlich bekannt wurde – mittels "Echolon" Europa aus, Indien baut Atombomben. Entsteht durch angeworbenen Informatiker nicht auch ein "Sicherheitsrisiko"?

Bullinger: Systeme sind nie total sicher. Kriminalität und Spionage geschehen heute auf ganz anderen Ebenen, als es noch vor zehn oder zwanzig Jahren der Fall war. Dieses Thema haben wir im Rahmen der D21-Initiative bislang nicht diskutiert.

Sehen Sie eine Lösung für das Arbeitskräfteproblem in der Informatik-Branche?

Bullinger: Die langfristige Lösung heißt Ausbildung, nicht "Green Card". Ausbildung auf allen Ebenen, nicht nur an den Universitäten. Die neuen Ausbildungsberufe im dualen Bildungssystem sind ein richtiger Ansatz.

Sind dann Sudiengebühren nicht abschreckend für Qualifizierung?

Bullinger: Wenn wir den jungen Leuten keine freie Ausbildung mehr garantieren, dann könnten wir fairerweise auch nicht erwarten, daß sie unsere Rente zahlen. Denn Bestandteil des Generationenvertrag ist auch, daß man sagt, wir bilden euch aus, dafür zahlt ihr unsere Rente. Jetzt bekommen wir ja weniger Rente. Also kamen Überlegungen zu Studiengebühren. Da wird sich sicher in beiden Richtungen etwas bewegen. Es wird immer auf die USA verwiesen, wie es dort funktioniert. Man muß sehen, daß die USA eine hohe Kultur von Stipendien haben. Gehen Sie mal dort in eine private Universität, ein Drittel oder die Hälfte studiert frei, durch Stipendien. Das fehlt bei uns fast völlig. Jörg Fischer

 

Prof. Dr.-Ing. Hans-Jörg Bullinger ist Leiter des Instituts für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement (IAT) der Universität Stuttgart und Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswissenschaft und Organisation. Die Schwerpunkte seiner Arbeit liegen im Bereich Informationsmanagement (Unternehmensführung, Informationssysteme, Arbeitsgestaltung) und Produktionsmanagement.

Geboren 1944 in Stuttgart, absolvierte er zunächst eine Lehre als Betriebsschlosser und studierte später Maschinenbau, Fachrichtung Fertigungstechnik. Von 1980 bis 1982 lehrte er als Professor an der Universität Hagen, seit 1982 ist er in Stuttgart. Hans-Jörg Bullinger ist Autor und Mitautor zahlreicher Bücher und von über 1.000 Veröffentlichungen.

 

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