© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/00 21. April 2000

 
Eine Nation verläßt ihre Kinder
Deutschland hat die Bildung sehenden Auges verkommen lassen
Oliver Geldszus

Überfüllte Hörsäle, mangelhaft ausgestattete Bibliotheken, genervte Professoren – für die meisten Studenten an den deutschen Universitäten werden diese Erfahrungen auch zu Beginn des Sommersemesters 2000 zu den gewohnten Eindrücken gehören. Über "Bildungsmisere" und "Bildungsnotstand" in Deutschland ist in den vergangenen Monaten zwar oft geredet worden, aber getan hat sich wenig.

Ohnehin kommt der Hauptdruck in dieser Frage von Wirtschaftsseite, während die Politik bislang nur dumpf verharrt und entweder anbiedernd Besserung gelobt oder aber den Status quo ideologisch verklärt. So hat eine von BMW in Auftrag gegebene Studie erst kürzlich gezeigt, daß die Lehrausbilder in den Betrieben fast jeder Branche jeweils dasselbe an den Lehrlingen vermissen: Allgemeinbildung, Selbständigkeit, Konzentrationsfähigkeit. Wer somit den teuren Bildungsweg in den deutschen Schulen durchlaufen hat, ist am Ende von der Wirtschaft nur bedingt zu gebrauchen. Das sind keine neuen Erkenntnisse – neu ist nur, daß die Industrie derzeit so viele Alarmsignale sendet wie niemals zuvor.

In keinem vergleichbaren Land werden so massiv finanzielle Mittel in die Bildung investiert wie in der Bundesrepublik – ohne daß allerdings die entsprechenden Ergebnisse dabei herauskommen. In kaum einem Bereich sind deutsche Hochschulabsolventen wirklich führend, und die jungen Wissenschaftler, die in der Medizin oder in der weltweit boomenden Internetbranche Karriere machen, sind in der Regel schon früh dem elenden Alltag zu Hause entflohen und haben im Ausland studiert, vorzugsweise in den USA. Um deutsche Schüler und Studenten wieder an die internationale Spitze heranzuführen, reicht es nicht, stolz auf die Budgets der zuständigen Ministerien zu verweisen. Denn zunächst ist eine politische wie ideologische Richtungsänderung vonnöten, sonst helfen all die Fördergelder auch in Zukunft nicht.

Im Dezember des vergangenen Jahres verkündete Bundesbildungsministerin Bulmahn etwa, daß die finanziellen Mittel für Bildung und Forschung um eine Milliarde Mark erhöht worden sind. Und die SPD-Ministerin vergaß nicht, erläuternd hinzuzufügen: "Dabei geht es mir insbesondere um die Frauenförderung". Wer auch zu Beginn des neuen Jahrtausends noch nach derart engen ideologisch-verbrämten Gesichtspunkten den wissenschaftlichen Nachwuchs fördern will, hat die Zukunft schon im Ansatz verloren. In Amerika hätte niemand den guten Willen der Schutzpatronin weiblicher Forschungswut verstanden; hier gilt rein nüchtern das Prinzip: der Beste setzt sich durch, Geschlecht egal.

Und im übrigen ist in Deutschland noch ein ganz anderer Diskurs vonnöten, und zwar der über die Elitenbildung. In keinem anderen vergleichbaren Land der westlichen Hemisphäre ist der Begriff "Elite" in ähnlicher Art und Weise von der geistigen Klasse bekämpft und diffamiert worden. Das hat auch in diesem Fall die bekannten Gründe und ist ohne den Generalkontext "Vergangenheitsbewältigung" nicht zu erfassen. Weil "Elite" von den Nationalsozialisten in bekannter Weise okkupiert worden war, wurden bei der Nachkriegsgeneration der 68er die entsprechenden Reflexe provoziert. Auch die marxistische Schule mit ihren bundesrepublikanischen Adepten Adorno, Horkheimer oder Habermas wandte sich gegen Elitenbildung und proklamierte statt dessen das unzulässig verallgemeinerte Egalitätsprinzip. Dabei konnten sie nahtlos an die Materialisten der französischen Aufklärung anknüpfen, die den Menschen als "Maschine" begriffen (d’Alembert) und als "unbeschriebenes weißes Blatt" (Holbach) auf die Welt kommen sahen. Das bedeutete nichts anderes als das Postulat der vollkommenen Gleichheit aller Menschen. Dahinter stand die Annahme, daß ausschließlich die erworbenen Umwelteinflüsse den Menschen prägen und letztlich individualisieren. In die Gesellschaft verlängert, folgt aus diesem Postulat, daß der Verbrecher von Psychologen erziehbar ist und Schüler potentiell die gleichen Anlagen haben. Entsprechend sind bis heute die Ansätze in der Bildungspolitik konzipiert, obwohl die moderne Genforschung nahezu täglich immer neue Belege für die genetische Vorherbestimmtheit des Menschen vorlegt – im Endeffekt ist mehr Schicksal im Spiel, als es sich sogar mancher Kirchenvater bis dahin vorgestellt hätte. Die politischen Folgen, vor allem auf juristischem Gebiet, sind aus den Erkenntnissen der Genetik erst noch zu ziehen. Für die Bildungspolitik bedeuten sie nicht nur die Legitimität, sondern geradezu die Notwendigkeit der Elitenbildung an Schulen und Universitäten. Nur gezielte und nicht gestreute Förderung wie an den Gesamtschulen kann im Endeffekt das Bildungsniveau wieder heben. Und auch der Ruf nach Studiengebühren ist nur sinnvoll, wenn damit keine neuen Wege der Finanzierung erschlossen werden sollen, sondern eine Auslese der Fähigsten angestrebt wird.

Wie peinlich es um den Bildungsstandort Deutschland bestellt ist, hat in jüngster Zeit die Forderung der Wirtschaft nach ausländischen Computerspezialisten demonstriert. Trotz hoher Arbeitslosigkeit sind in der Informationstechnologie 50.000 bis 75.000 Stellen offen, die von deutschen Hochschulabsolventen offensichtlich nicht adäquat ausgefüllt werden können. Die Rettung für das Land der Dichter und Denker erhofft man sich von den südostasiatischen Entwicklungsländern. Wobei der Witz nicht zuletzt darin besteht, daß die meisten indischen Softwareprogrammierer gar nicht nach Deutschland wollen: die asiatische Elite zieht es in die USA, wo ganz andere Entwicklungsmöglichkeiten und natürlich auch höhere Gehälter warten. So führt Ex-Zukunftsminister Rüttgers seine populistische Kampagne "Kinder statt Inder" in Nordrhein-Westfalen nicht nur gegen seine eigenen Versäumnisse, sondern auch gegen ein Phantom.

Sicher wird der Bedarf der Industrie sukzessive auch von einheimischen Nachwuchskräften befriedigt werden können. Doch darf die Bildungspolitik nicht dem Irrglauben verfallen, Fähigkeiten am Computer und im Internet könnten die Allgemeinbildung ersetzen. Die Ausstattung der Schulen mit moderner Kommunikationstechnologie ist zwar notwendig, aber kein Allheilmittel. Sicher kann man ohne Goethe im Internet einkaufen, aber ohne umfassende Bildung, da sind sich die Experten einig, stoßen die Segnungen des weltweiten Datennetzes ins Leere. Wer Anna Karenina für eine russische Sportlerin hält oder Shakespeare mit Zlatko für einen englischen Dokumentarfilmer, der wird über die Rolle des manipulierbaren Informationskonsumenten im Informationszeitalter nicht hinauskommen. Inmitten der täglichen Datenflut gerät Bildung immer mehr zur Voraussetzung geistiger Freiheit.


 
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