© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/00 21. April 2000

 
BLICK NACH OSTEN
Der Lehrplan wird von Brüssel vorgegeben
Carl Gustaf Ströhm

Nicht nur im Fall Österreich, auch gegenüber jenen Staaten, die sich vom Kommunismus befreit haben, führten sich Brüssel und Straßburg oftmals wie Gouverneure auf, die gegenüber wildgewordenen Stämmen eine Erziehungsdiktatur ausüben wollen.

Jetzt erreicht der "europäische" Druck eine neue Dimension: Es geht gegen das Geschichtsbild der kleineren, erst vor zehn Jahren befreiten Nationen. In Bosnien soll die Landesgeschichte massiv umgeschrieben werden – und zwar im Sinne von "Multi-kulti". Die kroatischen Schulkinder in Bosnien sollen nicht mehr Gedichte ihrer nationalen Dichter des 19. Jahrhunderts lernen. Überhaupt soll möglichst wenig über Kroatien als Mutterland gelehrt und stattdessen ein "bosnisches" Landesbewußsein gefördert werden. Auch den zahlenmäßig stärkeren bosnischen Moslems soll der nationale und islamische Zahn gezogen werden – obwohl das schon schwieriger zu bewerkstelligen ist. Wie zu hören ist, sieht auch der vielgerühmte "Stabilitätspakt" ein Umschreiben der "nationalen" Geschichtsbücher vor. In der Republik Kroatien hat die frisch installierte Linksregierung damit begonnen, die Geschichtsbücher für die 8. Schulklasse zu revidieren: weniger oder gar kein "national-kroatischer" Stoff, dafür jede Menge Antifaschismus.

Doch wer glaubt, diese "Bewußtseinsindustrie" beschränke sich auf den Balkan und den Südosten, täuscht sich gewaltig. Seit einiger Zeit fordern verschiedene europäische Emissäre von den baltischen Staaten, sie sollten ihr Geschichtsbild revidieren und ent-nationalisieren. Der lettischen Regierung wird vorgehalten, sie dulde und fördere ein viel zu "nationales" Geschichtsbild. Wozu braucht man denn die ständige Erinnerung an die gewaltsame Russifizierung, an die sowjetischen Massendeportationen, an die Schreckensherrschaft der sowjetischen Geheimpolizei? Warum muß denn auch der Staatspräsident Estlands immer wieder antisowjetische Widerstandskämpfer und Opfer sowjetischer Lagerhaft mit Orden auszeichnen?

An die baltischen Nationen ergeht die Aufforderung seitens Europas, endlich die bösen Zeiten zu vergessen, dafür mehr in die Zukunft zu schauen und sich an die angenehmen Seiten des Zusammenlebens mit dem Nachbarn Rußland zu erinnern. An Plakatwänden in Estland tauchen Poster auf, zu sehen sind zwei grinsende Männer im Führerhaus eines LKW: "Wladimir (der Russe) und Peeter (der Este)", die einander gut verstehen.

Wenn das so einfach wäre – wie schön wäre die Welt! Hier die Esten und Russen, die einander multiethnisch in den Armen liegen. Dort Moslems und Kroaten, Moslems und Serben, Kroaten und Serben, die "ganz zufällig" und nur weil sie von "obskuren" Nationalisten aufgehetzt wurden, vor einigen Jahren noch Krieg gegeneinander führten. Dann noch die Kosovo-Albaner, denen der Westen nicht zu geben traut, was ihnen eigentlich zusteht: die nationale Selbstbestimmung.

Zu befürchten ist jedoch, daß alle diese Versuche westlicher Instanzen, sich als "Ingenieure der Seele" und Bewußtseins-Manipulatoren aufzuspielen, scheitern werden. Wenn Europa seine Aufgabe darin sieht, den mittelosteuropäischen Völkern das Nationalgefühl und die Traditionen auszutreiben, dann verrät sich darin nicht nur erschreckende Unkenntnis. Die Nation ist das einzige, was diesen Menschen noch geblieben ist. Hier ein übernational-integriertes Vakuum zu schaffen, hieße an den Säulen zu rütteln, unter denen wir alle stehen.


 
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