© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/00 21. April 2000

 
Pankraz,
Sankt Benedikt und die Zunahme der Sklaverei

Fünfzig- bis hunderttausend "moderne Sklaven" will die New York Times in den USA ausgemacht haben. Es sind illegale Einwanderer, die als Diensboten oder Nebenfrauen in reichen Haushalten zugange sind, ohne daß eine Behörde das Geringste davon erfährt. Aus Furcht vor der Abschiebung liefern sie sich ihren "Arbeitgebern" vollkommen aus, verzichten freiwillig auf jeden bürgerlichen Status, leben nicht als Bürger, sondern als Bestandteile des Haushaltes, eben als "Sklaven", und lassen sich, wie die NYT mitteilt, viel gefallen.

Frühere Sklavenhalter konnten ihre dienstbaren Geister im Falle des Nichtgehorchens mit körperlicher Züchtigung und mit dem Tode betrafen, die Behörden waren vollkommen damit einverstanden. Heute ist das wohl nicht mehr möglich, aber es ist auch nicht notwendig. Der Sklavenhalter braucht den Ungehorsamen nur zu drohen, sie bei der Behörde bekannt zu machen, das wirkt genauso wie ehedem die Drohung mit dem Tode. Die Abschiebung, die dann fällig wird, den Rücktransport in die Heimat empfinden die "modernen Sklaven" als das Schlimmste, was ihnen zustoßen kann.

Übrigens war das in den Zeiten der klassischen Sklaverei oft nicht anders. Viele der im achtzehnten Jahrhundert von geschäftstüchtigen weißen Agenten in die USA vermittelten schwarzen Sklaven hätten sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, nach Afrika zurückgeschickt zu werden, denn dort wären sie von grausamen autochthonen Häuptlingen im Empfang genommen worden, unter denen sie es schlimmer gehabt hätten als unter dem gröbsten amerikanischen Südstaatenpflanzer.

Der Sklavenhandel zwischen Amerika und Afrika war keineswegs eine exklusive Angelegenheit "jüdischer Händler", wie manche schwarze US-Historiker bisweilen schreiben, sondern mindestens ebenso involviert waren afrikanische Stammesfürsten, die regelrechte Kriegszüge gegen feindliche Stämme unternahmen, um zu Sklaven zu kommen. Gab es keine Kriegsgefangenen, so verscherbelten diese Fürsten ohne Skrupel eigene Stammesgenossen, nicht anders als deutsche Fürsten zur selben Zeit ganze Regimenter der eigenen Armee nach Amerika verkauften, wie man bekanntlich bei Schiller in "Kabale und Liebe" vernehmen kann.

Sklave oder Nichtsklave – das ist oft lediglich eine Frage der Definition. In der Sowjetunion waren die Angehörigen der Lager, des berüchtigten GULag, zweifellos Sklaven, ohne alle Rechte und hilflos der Laune der Lagerkommandanten ausgeliefert. Aber den Menschen "draußen" ging es zeitweise kaum besser, manchmal, während der chronischen "Versorgungsengpässe", sogar schlechter. Wer als GULag-Insasse in den Bergwerken oder beim sibirischen Holzfällen verbraucht wurde, der war natürlich schlecht daran, doch in den "Scharaschkas", in den Speziallagern für Techniker und Wissenschaftler, hatte man es meistens etwas wärmer als "draußen", und rechtlos war man als "Sowjetbürger" ohnehin.

Jeder hundertste US-Bürger, liest Pankraz (ebenfalls in der NYT), sitzt zur Zeit im Knast; der Knast hat sich drüben bereits zu einer ungeheuren, GULag-ähnlichen Binnenstruktur entwickelt, mit eigenen Industrien, eigener Verwaltung, eigenen Fluglinien usw. Nun ist man als normaler Gefängnisinsasse in den USA zwar nicht rechtlos wie einst die "Sowjetbürger", aber es gibt dort, glaubhaften Berichten zufolge, gewisse regionale "prison camps", in denen ein unerhört hartes, bewußt schikanöses Regime waltet und in denen besonders häufig illegale Einwanderer landen, die zusätzlich noch bei einer Straftat ertappt werden. Da mag sich so mancher (und so manche) sagen: "Lieber Sklave im Haushalt von Börsenmakler Sowieso als verurteilter Bürger im Camp XY."

Nicht die schlechtesten Nachdenker der Vergangenheit haben dazu geraten, das Sklaventum weniger nach sozio-ökonomischen und bürgerrechtlichen Kriterien zu bemessen als nach rein geistigen. "Wer nicht zu sagen wagt, was er denkt, ist Sklave", donnerte schon Euripides, und der Stoiker Epiktet, einst selber Sklave und später Prinzenerzieher bei Kaiser Domitian, schließlich von diesem an die Grenzen des Reiches verbannt, meinte, als Sklave sei ihm "milder begegnet" worden als als Freiem, doch sei es ihm da auch leichter gefallen, sich "im Chor zu verstecken". Nicht so sehr der Sklave, sondern vielmehr der wahrhaft Freie habe im Leben mit gewissen Risiken zu rechnen.

Eine der ersten benediktinischen Ordensregeln, vom hl. Benedikt von Nursia selber verkündet, lautete: "Der Abt mache keinen Unterschied in der Person! Wer frei geboren ist, darf nicht höher gestellt werden, als wer aus dem Sklavenstand ins Kloster eintritt." Ganz selbstverständlich wurde dabei vorausgesetzt, daß das Bett der Benediktinerbrüder härter sei als das Sklavenbett; der Sklave begab sich als Mönch unter eine strengere Zukunft als zuvor und stand just deshalb mit den Freien in einer Reihe.

Die Pointe dieser asketisch-aristokratischen Anschauung liefert wieder einmal Friedrich Nietzsche, wenn er (Fragmente "Unschuld des Werdens", 2/1018) ausgerechnet den "kaufmännischen Geist", die Gier der Spekulanten als adäquaten Ausdruck modernen Sklaventums benennt. Das Spekulantentum, schrieb er, verschaffe den "Geistlosen, zur Erhebung Unfähigen" eine "vernünftige Verwendung des Tages, die aber alles Individuelle nivelliert und vor dem Geiste wie vor einer Ausschweifung schützt. Es bildet eine neue Gattung Menschen, welche die Bedeutung haben wie die Sklaven im Altertum".

Angesichts solcher Einsichten erscheint es nicht mehr so leicht ausgemacht, wer im Haushalt von Börsenmakler Sowieso eigentlich der Sklave ist, ob wirklich die illegal eingewanderte und illegal beschäftigte Nebenfrau aus Mexiko oder Weißrußland oder vielleicht der Börsenmakler selbst. Die Entscheidung darüber hängt vom geistigen Karat der Betreffenden ab.


 
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