© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/00 21. April 2000

 
Digitaler Kapitalismus
Eckhard Nickig

Während die "Traditionalisten" in der SPD noch die Kämpfe des 19. Jahrhunderts austragen, schwebt ihnen Peter Glotz weit voraus zum "digitalen Kapitalismus" des 21. Jahrhunderts. Zwar gehörte auch Glotz einst zu den Traditionalisten in SPD, doch das ist lange her, und nun gibt es für den Modernisierer kein Halten mehr. Auch die Erfurter Universität war ihm zu eng, und seit Jahresbeginn kann er sich endlich mit amerikanischen Spitzenuniversitäten messen: in der Weltliga der Universität St. Gallen, wo er als Direktor am "Institute for media and communication management" tätig ist. Indes, nur weil jemand die abgedroschenen Phrasen der Traditions-SPD nicht mehr mitsingt, muß er noch kein intellektueller Weltstar sein.

Sein Buch über "Die beschleunigte Gesellschaft. Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus" (München 1999) hat Glotz im vorigen Jahr diktiert. In der Tempo-Gesellschaft werden Bücher eben nicht mehr geschrieben, sondern diktiert, so wie es in Glotz’ gelobtem Land USA schon lange üblich ist. Und auch er beherrscht die Sprache der angelsächsischen Multimedia-Welt perfekt.

Der Autor hat sich Gedanken gemacht, wie es mit unserer vernetzten Gesellschaft weitergeht, und er macht sich Sorgen, daß wir den Anschluß an die Schrittmacher jenseits des Atlantiks verpassen könnten. Die alte Gewerkschaftsthese von der Zwei-Drittel-Gesellschaft wird von ihm neu belebt, allerdings mit anderem Akzent: Vermutlich werde sich ein Drittel der Gesellschaft unfreiwillig oder freiwillig dem Zug in die virtuelle Welt verweigern.

Besonderen Raum gibt Glotz natürlich den Kulturpessimisten. Das ist sein Lieblingsthema. Er vermeidet es, auf neuere kritische Literatur zum digitalen Zeitalter einzugehen, etwa Bernd Guggenbergers "digitales Nirwana". Doch warum auf neues eingehen, wenn man seine Abneigung gegen Kulturkritik auch an immer gleichen Beispielen festmachen kann? Die Amerikanisierung der Gesellschaft werde unaufhaltsam voranschreiten. Immerhin hält auch Glotz manche Vision von Bill Gates & Co. über Häuser, die man nicht mehr verlassen muß, weil sie jeden Wunsch von den Lippen ablesen, für übertrieben.

Immer wieder ist Glotz beim Diktieren abgeschweift und hat dieses und jenes gestreift. So wird einmal mehr die These von der "Tantenhaftigkeit" der politischen Kultur, der Verweigerung von Politikern und anderen Eliten zu kontroversen Diskussionen vorgetragen. Doch lasen wir dies nicht wortgetreu schon in der letzten und vorletzten Publikation des Medienwissenschaftlers?


 
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