© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/00 28. April 2000

 
"Appetit auf EU-Beitritt gedämpft"
Der Schweizer Nationalrat und Verleger Ulrich Schlüer plädiert für eine freie, unabhängige und neutrale Schweiz
Jörg Fischer

Herr Dr. Schlüer, Ihre Schweizerische Volkspartei ist mit einem Viertel der Sitze im Berner Nationalrat vertreten. Warum stellt die SVP nur einen Minister in der Allparteienkoalition?

Schlüer: Zunächst eine kleine Korrektur. Die SVP ist zwar jetzt die stärkste Partei im Parlament. Sie stellt im Nationalrat 44 von 200 Sitzen, in beiden Kammern zusammen 51 von 246 Sitzen. Sie hat also etwas weniger als ein Viertel der Sitze. Und damit ist klar, sie hat zwar die letzten Wahlen deutlich gewonnen, aber sie hat allein nicht die Mehrheit, so daß sie allein bestimmen könnte, wie sich die Regierung zusammensetzt. Es hat sich im letzten Dezember bei der Gesamterneuerung des Bundesrates – der wird in der Schweiz vom Parlament gewählt – gezeigt, daß die anderen bürgerlichen Parteien einem zweiten Sozialdemokraten in der Regierung den Vorzug gaben gegenüber einem zweiten Vertreter der Schweizerischen Volkspartei.

Seit Bestehen der ÖVP/FPÖ-Koalition gibt es einen diplomatischen Boykott der EU-14 gegen Wien.Wie verhält sich die neutrale Schweiz? Wie denkt Ihre Partei darüber?

Schlüer: Die schweizerische Regierung unterhält völlig normale Beziehungen mit Österreich. Es ist eine alte Tradition, daß ein neuer österreichischer Bundeskanzler seinen ersten Staatsbesuch in der Schweiz abstattet. An dieser Tradition wird festgehalten. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel war vor zwei Wochen in Bern auf offiziellem Besuch. Die österreichische Außenministerin ist seit ihrem Amtsantritt schon zweimal in der Schweiz gewesen. Demnächst wird auch der österreichische Wirtschaftsminister in der Schweiz einen Arbeitsbesuch absolvieren. Die Beziehungen sind völlig normal. Österreich ist ein in der Demokratie fest verankertes Land ist. Und es ist nicht das geringste Verständnis vorhanden, weshalb man mit einem guten Nachbarn anders umgehen sollte. Unsere Partei, die Schweizerische Volkspartei, unterstützt diese Haltung dezidiert und ist dem Ansinnen der Sozialisten in der Schweiz, auf den Boykott gegen Österreich einzuschwenken, entschieden entgegengetreten.

Besonders in Frankreich und Belgien hat der Österreich-Boykott absurde Züge angenommen, selbst Sportler und Schülergruppen aus Ihrem Nachbarland werden boykottiert. Wie sieht der frankophone Teil der Schweiz dieses Verhalten?

Schlüer: Soweit ich das aus der Deutsch-Schweiz feststellen kann, etwa durch Beobachtung der Presse in der französisch sprechenden Schweiz, dann ist Kopfschütteln die hauptsächlichste Reaktion gegenüber dem Verhalten Frankreichs und Belgiens.

Die Mehrheit der Schweizer ist, wie die SVP, EU-kritisch eingestellt. Inzwischen hat der Euro 20 Prozent an Wert verloren, kleine Länder werden boykottiert. Fühlen Sie sich bestätigt?

Schlüer: In der Schweiz wurde noch nie formell über einen EU-Beitritt abgestimmt. Es wurde nur über den EWR-Vertrag abgestimmt: Dabei hat sich eine knappeVolks- und eine deutliche Kantonsmehrheit dagegengestellt. In der Schweiz sind beide Mehrheiten notwendig. Die Schweizerische Volkspartei war die einzige Partei, die sich mit aller Kraft gegen diese Vertragsunterzeichnung, gegen diesen Beitritt ausgesprochen hat. Es ist tatsächlich so, daß die Argumente, die wir im seinerzeitigen Abstimmungskampf in den Mittelpunkt gestellt haben, sich als richtig erweisen. Wir sind immer davon ausgegangen, daß der Euro als eine Mischwährung in Europa, zu dem nicht nur die starke D-Mark, sondern auch schwache Südwährungen gehören, nicht gleich stark sein kann wie die D-Mark. Und insofern fühlen wir uns schon bestätigt. Aber das Hauptargument in der Schweiz gegen den EU-Beitritt ist: Wir sind nicht bereit, die Souveränität, die in der Schweiz beim Volk liegt, an Brüssel abzutreten: Wir sind eine direkte Demokratie, Entscheidungen können vom Volk getroffen werden. Diese Vorrechte der direkten Demokratie sind ein grundlegender Unterschied zu anderen europäischen Ländern. Wir treten die Volkssouveränität nicht nach Brüssel ab.

Im Zuge des Österreich-Boykotts sprechen Kommentatoren inzwischen von einer neuen "Breshnew-Doktrin". Besteht nicht die Gefahr, daß bei einem entsprechenden Wahlausgang Ihrem Land gleiches droht?

Schlüer: Wir haben hier einen ganz konkreten Anlaß, uns auf Schwierigkeiten vorzubereiten. Spätestens seit dem letzten Besuch des deutschen Bundeskanzlers Schröder in der Schweiz: Der hat sich ganz klar dagegen geäußert, daß die Schweiz im internationalen Steuerwettbewerb eine eigenständige Position einnimmt. Er hat sich auch – meines Erachtens – fast bedrohlich deutlich gegen das Schweizerische Bankgeheimnis ausgesprochen. Das sind Botschaften, die man in der Schweiz versteht, die den Appetit auf EU-Beitritt sehr deutlich gedämpft haben und die uns darauf hinweisen, daß wir uns voraussichtlich auf Schwierigkeiten gefaßt machen müssen.

Nicht nur die "Sozialistische Internationale", auch bürgerliche Parteien haben im Ausland "Schwesterparteien". Mit wem ist ihre SVP politisch "verwandt"?

Schlüer: Die Schweizerische Volkspartei nimmt eine Ausnahmestellung ein. Wir haben immer diesen Standpunkt vertreten: Wir kümmern uns um schweizerische Belange, wir wenden alle Kraft auf, um unsere Ansicht bezüglich der Zukunft der Schweiz in unserem Land durchzusetzen. Wir sehen für unser Land eine Zukunft außerhalb der Europäischen Union. Wir maßen uns aber nicht an, den Österreichern oder den Deutschen oder sonst irgendeinem Volk zu sagen, wie sie sich zu verhalten haben. Wir sagen einfach, wir nehmen das Recht für uns in Anspruch, für unser Land allein zu entscheiden, und verbitten uns irgendwelche Einsprache. Daher nehmen wir davon Abstand, anderen Empfehlungen und Ratschläge zu erteilen.

Deswegen stellt sich für Sie gar nicht die Frage einer internationalen Zusammenarbeit?

Schlüer: Die Schweiz ist Mitglied des Europarates und kann dort ihre Anliegen einbringen. Natürlich, Partner gibt es schon. Aber als Partei werden wir nie irgendwelche Anstalten machen, Fühler nach außen zu strecken.

In Deutschland ist momentan der Fachkräftemangel im Informatik-Bereich ein wichtiges Thema. Bundeskanzler Schröder will deshalb Fachleute – "Computer-Inder" genannt – aus Asien oder Osteuropa nach Deutschland anwerben. Die schweizerische FDP will die Schröder-Idee kopieren. Wie denken Sie über diese "Einwanderungsoffensive", konterkariert das Ihre "Asyl-Initiative"?

Schlüer: Diese Idee war von sehr kurzlebiger Dauer in der Schweiz. Der ebenfalls der Freisinnigen Partei angehörende Wirtschaftsminister hat sich sehr skeptisch dazu geäußert. Es besteht in der Schweiz Konsens, daß im Ausbildungsbereich in Richtung Informatik und Elektronik verstärkte Anstrengungen notwendig sind. Es besteht auch der Wille, diese umzusetzen. Aber man ist nicht der Meinung, man müsse jetzt eine Einwanderungswelle produzieren. Ich möchte auch feststellen, daß beispielsweise die Computerdichte in der Schweiz wesentlich höher ist, als in den meisten anderen europäischen Ländern. Ich wage die Behauptung, daß die Schweiz in diesem Bereich nicht unbedingt zu den zurückgebliebenen Ländern gehört. Die Asylfrage hat damit eigentlich nichts zu tun. Die Asyl-Initiative will gegen den Asylrechtsmißbrauch vorgehen, der in der Schweiz zu vielfältigen Problemen führt.

Schweden, Finnland und Österreich überdenken inzwischen ihre Neutralität. Kann die Schweiz langfristig neutral bleiben?

Schlüer: Es ist nicht eine Frage des Könnens, es ist eine Frage des Wollens. Wenn die Schweiz neutral bleiben will – das ist ein Ziel, das die Schweizerische Volkspartei sehr dezidiert verfolgt – dann kann sie ohne jeden Zweifel auch neutral bleiben. Man muß dabei auch erkennen, daß die schweizerische Neutralität nicht einfach vergleichbar ist mit Neutralitätspolitiken, wie sie andere Länder betreiben. Österreich ist ein neutrales Land, weil ihm die Neutralität im Staatsvertrag von 1955 als Preis für den Abzug der Besatzer aufgetragen worden ist. Und diesen Preis haben sie selbstverständlich gerne bezahlt, wenn sie dafür die Russen losgeworden sind. Aber Österreich ist ohne Zweifel weit weniger mit dem Neutralitätsgedanken verbunden, als das die Schweiz ist. Die Schweiz ist aus Überzeugung ein Kleinstaat und wollte immer Kleinstaat sein. Wir glauben, nur im Kleinstaat die direkte Demokratie auch wirklich ausüben zu können. Das gibt der Neutralität in der Schweiz einen anderen Stellenwert. In der Schweiz ist Neutralität eine politische Haltung, die zutiefst in der Bevölkerung verwurzelt ist.

Die Schweiz gilt als besonders sauberes Land, nur die Sandoz-Katastrophe trübte vor Jahren das Bild. Wie steht es um den Umweltschutz?

Schlüer: Diese Sandoz-Katastrophe war ein höchst bedauerlicher Unfall, aber es war auch nicht mehr. Ich glaube, da sind die Konsequenzen sehr umfassend gezogen worden. Die Schweiz ist zweifellos ein vergleichsweise vorbildliches Land im Umweltbereich. Meines Erachtens stellt sich das Problem aber auch etwas anders. Aus eigener Anschauung weiß ich, daß in Osteuropa noch manche Umweltbombe lagert, die explodieren könnte. Ich denke an die Ölschieferwerke in Estland, oder auch in Rumänien sieht man fürchterliche Dinge. Würden die Grünen ihre Aktivität diesen echten, schweren Problemen zuwenden, würden sie auch bei uns höchsten Respekt genießen. Aber es geht ihnen nur um die Implementierung von Vorschriften und damit letzten Endes um politische Macht. Und das ist ein weit weniger erstrebenswertes Verhalten.

Die Schweiz hat vier Atomkraftwerke. Was halten die SVP und die Schweizer davon?

Schlüer: Diese vier funktionieren tadellos. Wir haben natürlich auch immer wieder Kundgebungen dagegen. Es ist nicht damit zu rechnen, daß in absehbarer Zeit ein fünftes gebaut wird. Ich habe den Eindruck, man kommt von dieser Großtechnologie in der Elektrizitätsproduktion weg. Außerdem: Die Liberalisierung des Strommarktes läßt erkennen, daß eher zuviel Energiekapazität vorhanden ist als daß man mit Energieknappheit zu kämpfen hätte.

Die Schweiz hat das beste Bahnnetz der Welt – trotzdem droht die Schweiz am Transitverkehr zu ersticken, wenn die Tonnage-Beschränkung für Lkw entsprechend EU-Wunsch fällt. Wie wird sich die SVP bei dem Thema verhalten?

Schlüer: Bei uns ist diese schwerwiegende Entscheidung zuungunsten der Schweizer ausgefallen: Das Konzept der Regierung hat sich – gegen den Widerstand der SVP – durchgesetzt. Danach können ab 2001 auch 40-Tonnen-Lastzüge durch unser Land fahren. Allerdings gegen eine sehr einschneidende Besteuerung. Ich gehe davon aus, daß das vor allem den Alpentälern ein böses Erwachen bescheren wird. Rückgängig zu machen dürfte es kaum mehr sein. Meines Erachtens wäre jetzt, angesichts der Tatsachen, die geschaffen sind, die sinnvollste Politik die, daß man das vorhandene Geld dafür einsetzt, diese Transitrouten so umweltschonend wie möglich auszubauen. Sonst führt das zu unerträglichen Zuständen.

Durch eine Volksinitiative ist das nicht wieder rückgängig zu machen?

Schlüer: Es ist nicht völlig unmöglich, aber wir würden dann vertragsbrüchig gegenüber der Europäischen Union.

Was steckt hinter der SVP-Goldinitiative?

Schlüer: Die Schweizerische Nationalbank ist der Auffassung – ob zu Recht oder zu Unrecht, das ist zu diskutieren –, daß die Schweiz zu hohe Goldreserven besitzt. Ein Teil dieser Goldreserven – man spricht von etwa 20 Tonnen – könnte verkauft werden. Das werden gewaltige Beträge frei. Das erregte natürlich sofort den Appetit von Politikern, die jetzt allerhand Ideen entwickeln, was man mit diesem Geld machen könnte. Die Regierung wollte insbesondere die sogenannte Solidaritätsstiftung mit sieben Milliarden aus diesem Gold dotieren. Eine Solidaritätsstiftung, die sie während der Holocaust-Krise aus einer Verteidigungsposition heraus entwickelt hat. Das findet natürlich in der Bevölkerung alles andere als einen guten Rückhalt. Wir von der Schweizerischen Volkspartei sind der Auffassung, daß das Nationalbank-Gold nicht den Politikern gehört, sondern Volksvermögen ist: aus dem Fleiß der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten angespartes Vermögen. Wenn es nicht mehr benötigt wird, ist es der Bevölkerung zurückzugeben. Da bietet sich natürlich die Altersvorsorge an, die wirklich der gesamten Bevölkerung zugute kommt und die auch mittelfristig Finanzierungsprobleme hat. Dieser Weg läßt eine wirklich gerechte Verteilung dieses Goldes zu. Wir wollen diesen "Goldschatz" einem Alterssicherungsfonds zuführen. Wir wollen damit nicht zusätzliche Leistungen finanzieren, sondern bestehende sichern.

Berner SVP-Politiker beklagen wachsenden "Antisemitismus und Fremdenhaß" in Ihrer Partei. Was unterscheidet die Berner von der Restschweiz? Gibt es Konflikte zwischen deutschen und francophonen Mitgliedern?

Schlüer: Das hat mit Antisemitismus oder Fremdenhaß nichts zu tun. Das sind aufgebauschte Medienberichte gewesen, die sich auf Äußerungen von Vereinzelten stützten. Der eigentliche Unterschied besteht darin: Die Berner SVP ist die traditionelle, alteingesessene Regierungspartei im Kanton Bern, die auch Posten und Möglichkeiten zu vergeben hat. Währenddessen ist die Züricher SVP, die stärker aus der Opposition gegen das "Gesättigte" operiert hat, weniger regierungsgläubig. Das andere, das sind Pressepolemiken, die mit der Realität wenig zu tun haben.

Die SVP hat die da auch frankophone Mitglieder, gibt es da politische Unterschiede?

Schlüer: Wir haben im Kanton Waadt, im Kanton Wallis und im Kanton Genf markante Fortschritte erzielt. In den Grundfragen bestehen wenig Differenzen.

Gibt es eine dezidiert frankophone Partei?

Schlüer: Das ist die Liberale Partei, die vor allem im frankophonen Teil stark ist. Sie hat aber auch einen Ableger in Basel. Die Partei ist fest etabliert im Land.

Vor zehn Jahren fand Deutschland seine Einheit wieder. Was empfinden die Schweizer zur Wiedervereinigung?

Schlüer: Man hat damals natürlich die spontane Freude der Deutschen geteilt. Vor allem, weil die jahrzehntelange Bedrohung des Kommunismus zusammengebrochen ist. Man hat die Einheit der Deutschen begrüßt, nur eine kleine Minderheit empfand sie als Bedrohung. Inzwischen glauben viele Schweizer daß die Probleme, die in Deutschland zwischen den alten und neuen Bundesländern bestehen, nur ein kleiner Vorgeschmack darauf sind, was passiert, wenn die EU-Osterweiterung kommt.

 

Dr. Ulrich Schlüer ist seit 1995 Nationalrat und Mitglied der Außenpolitischen- und Verfassungskommission in Bern. Er gehört der Schweizerischen Volkspartei (SVP) an. Geboren am 17.Oktober 1944 in Oberengstringen/Basel, arbeitete der promovierte Historiker seit 1970 als Mittelschullehrer für Geschichte in Zürich. 1979 gründete er die Schweizerzeit Verlags AG und ist seither Chefredakteur der Zeitung Schweizerzeit. Von 1978 bis 1994 ist er Mitglied verschiedener Schulbehörden. 1994 bis 1998 ist er Gemeindepräsident von Flaach. 1995 wurde er für die SVP in den Nationalrat gewählt. Er war Mitglied der Delegation bei der parlamentarischen Versammlung der OSZE.

 

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