© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/00 28. April 2000

 
BLICK NACH OSTEN
Rußland will Großmacht bleiben
Carl Gustaf Ströhm

Rußland, wohin jagst Du? Diese Frage, die im 19. Jahrhundert der Schriftsteller Gogol seinen Landsleuten stellte, hat nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt. Wladimir Putin, der neue Herr des Kreml, hat die russische Duma dazu gebracht, dem Atomtest-Stoppvertrag zuzustimen. Das hat in der westlichen Öffentlichkeit Hoffnungen geweckt, Rußland werde sich unter dem neuen Kreml-Herren doch noch als "handlicher" und "berechenbarer" Partner in die allgemeine Weltordnung einfügen – und zwar unter sanfter amerikanischer Oberhoheit.

Viel weniger beachtet wurde die vom Nationalen Sicherheitsrat fast gleichzeitig verabschiedete "Neue Russische Militärdoktrin". Rußland behält sich darin den Ersteinsatz von Atomwaffen für den Fall einer "groß angelegten Aggression mit konventionellen Waffen" und einer "kritischen Situation für die nationale Sicherheit" vor. Bisher galt nur eine "Bedrohung der Existenz" eines Staates als hinreichender Grund.

Wer aber definiert diese Begriffe? Nehmen wir an, Tschetschenien kommt nicht zur Ruhe, die Konfrontation weitet sich zu einem Konflikt zwischen Moskau und militanten Teilen der islamischen Welt aus. Andere, nicht-russische Moslem-Völker nutzen die Lage aus, um sich von Moskau zu lösen. Dann könnte jemand im Kreml – es muß ja nicht Putin sein – auf die Idee kommen, die ultima ratio auszulösen. Nicht gegen Europa, sondern gegen irgendwelche "wilden" Moslems im Kaukasus. Eine winzige Atomwolke über einem abgelegenen Gebiet würde auch Europa in Mitleidenschaft ziehen.

Eine österreichische Tageszeitung suchte– ganz unter dem Eindruck einer Begegnung der österreichischen Außenministerin Ferrero-Waldner – Putin ihren Lesern mit dem Argument anzudienen, der ehemalige KGB-Agent habe nicht nur in sowjetisch-atheistischen Zeiten seine Kinder taufen lassen, sondern den Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche Aleksej beim KGB angestellt, um ihn vor Verfolgungen durch die KP zu schützen: Wer dem Oberhaupt der russischen Orthodoxie einen Job beim Geheimdienst verschafft – dem ist ein "handwerkliches" Format nicht abzusprechen.

An einigen "Konstanten" der russischen Außenpolitik läßt auch Putin nicht rütteln: Bis heute fehlt eine verbindliche Moskauer Zusage, daß die Souveränität der baltischen Staaten voll akzeptiert wird; der Kreml sucht nach einem "Sonderverhältnis" zur Ukraine; bis heute verhindert die russische Politik die Konsolidierung der Kaukasus-Staaten. Mit Weißrußland ist die Union so eng, daß an der weißrussischen Westgrenze bald russische Grenztruppen eingesetzt werden könnten – was die Polen besonders "freuen" dürfte.

Nicht zu vergessen: Das Problem Königsberg/Kaliningrad. Putin hat allen "Träumereien" von einer Entmilitarisierung, Internationalisierung oder gar Räumung des nördlichen Ostpreußens zurückgewiesen. Im Gegenteil: Das Gebiet soll stärker als militärischer Stützpunkt dienen.

Alles das sollte zwar keine Panik, aber Nachdenklichkeit auslösen. Im Gegensatz zu den Deutschen wollen die Russen Großmacht sein. Rußland kann sich nach Lage der Dinge nicht durch Massenwohlstand, sondern nur durch Macht definieren. Putin bleibt – wenn er Erfolg haben will – gar kein anderer Ausweg, als die "verlorene Erde" des russischen Imperiums wieder einzusammeln. Möglicherweise sogar mit westlichen Krediten, es wäre nicht das erste Mal.


 
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