© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/00 28. April 2000

 
Das große Schweigen
Eine filmische Bewältigung der kroatischen Nachkriegsgeschichte
Carl Gustaf Ströhm

Vor einigen Wochen, kurz vor dem Machtwechsel in Kroatien, der die Ex-Kommunisten wieder ans Ruder brachte, erregte ein inzwischen auf geheimnisvolle Weise "abgesetzter" Spielfilm des bekannten kroatischen Regisseurs Jakov Sedlar in Zagreb beträchtliches Aufsehen.

In dem Streifen "Die Viererreihe" (Cetverored; Croatia-Film, Zagreb) wurde das wahre Schicksal Kroatiens am Ende des Zweiten Weltkrieges filmisch dargestellt. Und zwar nicht, wie bisher üblich, aus der Perspektive der Kommunisten und Partisanen Titos, sondern aus dem Blickwinkel der Unterlegenen, Ausgelieferten und Ermordeten, nämlich jener Kroaten, die den Kommunismus ablehnten. Zagreb war eine der letzten Großstädte Europas, die sich am 7. Mai nicht in alliierter Hand befand. Die Stadt war darum Ausgangspunkt einer Völkerwanderung in Richtung Österreich, wohin sich 150.000 Zivilisten und die Angehörigen der kroatischen Armee absetzen wollten. Damals ergriff jeder vierte Bewohner der Adria-Republik die Flucht vor den Tito-Kommunisten.

Im Mai 1945 begann der kroatische Exodus

Sedlars Spielfilm zeigt, eingebaut in eine Rahmenhandlung, wie sich ein Inspizient und eine Schauspielerin des Zagreber Nationaltheaters am 5. Mai 1945 auf ihre abenteuerliche Flucht begeben. Sedlar stellt die Fluchtbilder realistisch und differenziert dar. Da sind die jungen Mädchen vom Ustascha-Arbeitsdienst, die auf einem alten LKW die Heimat verlassen. Neben ihnen wilde Ustascha-Fanatiker, die nicht davor zurückschrecken, eigene Landsleute zu töten. Weiterhin jenes kroatische Bürgertum, das eng mit dem alten Österreich verbunden war. Und da ist schließlich der Hauptmann der kroatischen Landwehr, der mit dem deutschen Eisernen Kreuz auf der Brust, der sagt: "Der Zweite Weltkrieg war nicht unser Krieg. Unser Krieg wäre ein ganz anderer gewesen." Der Hauptmann fällt bei einem Luftangriff auf die Flüchtlingskolonne.

Die kroatische Armee und die Flüchtlingstrecks erreichen schließlich die Grenze. Bei Bleiburg in Kärnten schlagen die Kroaten ihre Zelte auf – die Verhandlungen mit den Briten beginnen. Die Szene, wie Hunderttausende von Menschen auf dem Bleiburger feld kampieren – in der Erwartung, vom Westen vor den Kommunisten gerettet zu werden –, gehört wohl zu den dichtesten und eindrucksvollsten des Sedlar-Films. Noch einmal singen die Menschen ihre überlieferten Volkslieder an den Lagerfeuern. Anderntags begeben sich die kroatischen Generale ins Bleiburger Schloß zu den Briten. Doch die weisen die Kapitulation der Kroaten kalt zurück: Sollen sie sich doch den Tito-Partisanen ergeben. Erfolglos versucht ein hoher kroatischer Offizier die Briten davon zu überzeugen, daß sie ein schreckliches Verbrechen begehen würden, wenn sie solche Menschenmassen der kommunistischen Rachsucht überantworteten. Der britische General gewährt den Kroaten jedoch nur eine Stunde für das Niederlegen der Waffen. Sollten sich die Kroaten nicht den Partisanen ergeben, wären britische Panzer und Flugzeuge zu einem Massaker bereit, das auch die Zivilisten nicht verschonen würde.

Abschiebung auf die unfeine englische Art

Die Folgen dieses britischen Schrittes waren katastrophal – für die Kroaten. In Viererreihen trieben schwerbewaffnete kommunistische Partisanen die Gefangenen in "Todesmärschen" zurück nach Süden. Der Film zeigt, wie sie gedemütigt werden. Auf Kommando mußten sich die Gefangenen zu Boden werfen, und dann befahlen die Wächter: "Küßt die Erde, die ihr verraten habt! Wer das nicht tut, bezieht Prügel...!" In realistischer Weise zeigt der Streifen Massenvergewaltigungen, Beraubung und Ermordung von Gefangenen. Ein alter Landwehroffizier wird von einem Partisanenkommissar beim Verhör erdolcht, weil er darauf bestanden hatte, Berufsoffizier, aber kein "Ustascha", also kein Parteigänger des Diktators Ante Pavelic gewesen zu sein.

Der Film versucht auch eines der düstersten Kapitel im damals kommunistischen Jugoslawien zu behandeln: die Massenerschießungen von Kriegsgefangenen durch Kommunisten. Einige überleben den Massenmord und verstecken sich zwischen den Leichen – aber Augenzeugen der wirklichen Geschehnisse sagen, die wirklichen Exekutionen seien um ein vielfaches schrecklicher gewesen, als der Film es darstellen konnte. Anders als in manchen blutrünstigen Hollywood-Epen scheint man hier auf die Gemütslage des Zuschauers Rücksicht genommen zu haben. Zumal der Film auch tragikomische Sequenzen enthält: Als die Partisanen die verschlossenen Türen eines einrollenden Güterwaggons aufreißen, sehen sie dort Gestalten in deutschen Wehrmachts- uniformen. "Sind wir schon in London?" fragen diese auf kroatisch. Es waren Angehörige der "blauen" Legionärsdivision, Kroaten, die unter dem Kommando deutscher Offiziere gekämpft hatten und denen die Engländer bei der Verladung versprochen hatten, man werde sie nach Großbritannien bringen. Stattdessen endeten sie – auf titoistischen Todesmärschen.

Bei den Massenerschießungen tun sich vor allem junge Serben hervor, die noch vor kurzem zu den königstreuen "Tschetnik-Verbänden" gehört hatten. Eine junge Partisanin beginnt plötzlich wild um sich zu schießen und am ganzen Leibe zitternd zu schreien: "Wir müssen sie alle töten, alle, alle!" Einer der gefangenen Kroaten sagt zu seinem Gefährten: "Das ist die Partisanenkrankheit." Die Teilnehmer an der Massenexekution hatten für den Rest ihres Lebens schwerste psychische Störungen.

Bezeichnend ist ein Dialog zwischen einem Kroaten und einem Partisanen: "Ich bin kein Ustascha", sagt der Kroate Franta. "Wieso bist du keiner? Du bist doch Kroate!" – "Ja, das bin ich." – Dann bist du auch ein Ustascha!"

Postkommunisten hüten das Grab des Vergessens

Der Held des Films – zugleich Hauptperson des gleichnamigen Romans des zeitgenössischen kroatischen Schriftstellers Ivan Aralica, dessen Buch verfilmt wurde – wird am Ende aus kommunistischer Haft befreit, muß aber ein Revers unterschreiben, niemals über seine Erlebnisse zu sprechen. "Ich habe schon einmal gesagt, daß Schweigen das ausdrucksvollste Sprechen ist", sagt er. "Ich erklärte mich einverstanden, zu unterschreiben, obwohl mir die Seele wehtat, als ich mich derer erinnerte, die mit mir in den Viererreihen marschierten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich sie erneut beerdigen muß – im Grab des Vergessens." Aber, so fügt er hinzu, wenn er nicht unterschreibe, werde er mit seinen Schicksalgefährten im Osten verschwinden, und damit der letzte Zeuge, der daran erinnern könne, was sich damals ereignete.

Die Frau, die den Helden aus der tödlichen Gefangenschaft befreit, sagt ihm am Ende: "Ich weiß, daß du längst nicht mehr von der Selbstlosigkeit des Westens überzeugt bist." Und: "Es gibt auch andere Masken, unter denen wir jetzt leben müssen."

Das "große kroatische Schweigen" deckte eine Tragödie zu, die in den schweren Umbrüchen nach 1945 mindestens 200.000 Menschen das Leben kostete. Manchmal scheint es, dieses kroatische Schweigen sei auch zehn Jahre nach dem Ende des Kommunismus immer noch nicht gebrochen worden.


 
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