© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/00 28. April 2000

 
Schutz von Kindern fehlt
von Manfred Spieker

Die Statistik der Schwangerschaftsabbrüche war immer schon ein ebenso dorniges wie unbearbeitetes Feld. Das Statistische Bundesamt hat deshalb in den achtziger Jahren seinem jährlichen Bericht über die Entwicklungen der Schwangerschaftsabbrüche die Warnung vorangestellt, die Ergebnisse seien "hinsichtlich ihrer Größenordnung und Entwicklung mit Vorbehalt zu betrachten, weil verschiedene Indizien darauf hindeuten, daß nicht alle Ärzte, die einen solchen Schwangerschaftsabbruch ausgeführt haben, ihrer Meldepflicht nachkommen". Ferner müsse "mit einer gewissen Zahl von illegalen Abbrüchen gerechnet werden".

Den Problemen der Abtreibungsstatistik versuchte der Bundestag 1992 dadurch Herr zu werden, daß er mit der Einführung des Beratungskonzepts die Statistik abschaffen wollte. Dies wurde vom Bundesverfassungsgericht als mit dem Grundgesetz unvereinbar verworfen. Der Staat brauche, so argumentierte das Gericht, eine zuverlässige Statistik, um überprüfen zu können, ob das Reformgesetz mit seinem Paradigmenwechsel von der Androhung strafrechtlicher Sanktionen zur Pflichtberatung einen wirksameren Schutz vor Schwangerschaftsabbrüchen herbeiführe als die alte Indikationenregelung.

Das Gericht verpflichtete den Gesetzgeber auch zum Nachbessern, wenn sich nach hinreichender Beobachtungszeit herausstellen sollte, "daß das Gesetz das von der Verfassung geforderte Maß an Schutz nicht zu gewährleisten vermag". Dann müsse er "durch Änderung oder Ergänzung der bestehenden Vorschriften auf die Beseitigung der Mängel" hinwirken.

Mit der Reform des Paragraphen 218 Strafgesetzbuch (StGB) im Jahre 1995 wurde ein neues Meldeverfahren eingeführt. Die Zahl der vom Statistischen Bundesamt gemeldeten Schwangerschaftsabbrüche stieg um rund 35 Prozent und bewegt sich seitdem jährlich um 130.000. Die Abtreibungen in den neuen Bundesländern sind schon seit 1993 in der Statistik enthalten. Sie können den Anstieg 1996 also nicht verursacht haben. Die gesamtdeutsche Statistik wies 1995 nach dem alten Meldeverfahren der Ärzte noch knapp 98.000 Abtreibungen aus.

Um eine exakte Statistik bemüht sich zur Zeit niemand. Der Gesetzgeber steckt den Kopf in den Sand, obwohl das Statistische Bundesamt auch der neuen Statistik jedes Jahr die Warnung voranstellt, die Zahlen seien nicht realistisch. Dies liege, so das Statistische Bundesamt, vor allem daran, daß die Landesärztekammern und Gesundheitsbehörden der Länder die Anschriften der Ärzte, die abtreiben, und der Kliniken, in denen Abtreibungen vorgenommen werden, nur lückenhaft und ohne einheitliches Kontrollverfahren an das Statistische Bundesamt schicken.

Die Landesärztekammern und die Gesundheitsbehörde der Länder sind gesetzlich verpflichtet, dem Statistischen Bundesamt diese Listen "nach ihren Erkenntnissen" zur Verfügung zu stellen, damit es in der Lage ist, seine Erhebungsbögen zu verschicken. Dieses Verfahren wurde bereits 1998 als mangelhaft kritisiert, ohne daß sich bis heute daran etwas geändert hätte. Außerdem, so warnt das Statistische Bundesamt jedes Jahr neu, seien in der Statistik "die unter einer anderen Diagnose abgerechneten und die im Ausland vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche nicht enthalten".

Daß das Statistische Bundesamt auch nach der Reform des Paragraphen 218 1995 zu niedrige Abtreibungszahlen ausweist, läßt sich indes nicht nur plausibel vermuten, sondern exakt nachweisen – zumindest für den Bereich der indizierten Abtreibungen, also jener Abtreibungen, die nach § 218, Absatz 2 und 3 StGB nach einer medizinischen oder einer kriminologischen Indikation vorgenommen werden und als "nicht rechtswidrig" gelten. Die medizinische Indikation ist sehr weit gefaßt und anerkennt auch jede Belastung, die einer Mutter aus der gesundheitlichen Schädigung eines Kindes erwachsen könnte, als Abtreibungsgrund.

Aus dem nachweisbaren Meldedefizit bei diesen indizierten Abtreibungen lassen sich dann auch Rückschlüsse auf den Bereich der "beratenen Abbrüche" ziehen, jene Abtreibungen also, die ohne jede Indikation nach der Vorlage eines Beratungsscheines vorgenommen werden. So meldete das Statistische Bundesamt 1996, im ersten Jahr, in dem das neue Meldeverfahren galt, 4.874 Abtreibungen (3,7 Prozent) nach einer allgemein-medizinischen, einer psychiatrischen oder einer kriminologischen Indikation (1997: 4.560; 1998: 4.372 und 1999: 3.695). Dem standen 126.025 Abtreibungen (96,3 Prozent) nach der neuen Beratungsregelung gegenüber (1997: 126.330; 1998: 127.423; 1999: 126.776).

Da die indizierten Abtreibungen im Gegensatz zu den "beratenen Abbrüchen" aber nach wie vor von den Krankenkassen bezahlt werden, tauchen sie auch in der Abrechnungsstatistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung auf. Hier werden unter den Nummern 0195 (Schwangerschaftsabbrüche nach medizinischer oder kriminologischer Indikation bis zur 14. Woche) der Ärztlichen Gebührenordnung wesentlich mehr indizierte Abtreibungen abgerechnet, als vom Statistischen Bundesamt gemeldet werden.

Nach dieser Abrechnungsstatistik wurden 1996 7.530 und 1997 6.036 Abtreibungen abgerechnet. (Für 1998 liegen Zahlen erst für zwei Quartale vor). Die hier ausgewiesenen Abtreibungen lagen damit 1996 um über 50 Prozent und 1997 um knapp 40 Prozent über den vom Statistischen Bundesamt gemeldeten. Geht man davon aus, daß die Kassenärztliche Bundesvereinigung aber nur die rund 85 Prozent der Bürger erfaßt, die in der Gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, während rund 15 Prozent privat und/oder über die Beamtenhilfe abgesichert sind, und geht man des weiteren davon aus, daß sich das Verhalten dieser 15 Prozent im Hinblick auf unerwünschte Schwangerschaften und Abtreibungen von dem der übrigen Bevölkerung nicht unterscheidet, dann muß man die Zahl der indizierten Abtreibungen 1996 um rund 1.500 und 1997 um rund 1.000 erhöhen. Es wäre also 1996 von insgesamt rund 9.000 und 1997 von rund 7.000 indizierten Abtreibungen auszugehen. Dies bedeutet ein Meldedefizit für 1996 von rund 45 Prozent und für 1997 von 35 Prozent.

Es gibt keine überzeugenden Gründe, dieses Meldedefizit nicht auch bei den beratenen Abbrüchen anzunehmen. Die jeweils rund 126.000 gemeldeten Abtreibungen müßten also 1996 um rund 100.000 und 1997 um rund 65.000 vermehrt werden. Die Gesamtzahl der beratenen und indizierten Abbrüche betrug demnach 1996 rund 235.000 und 1997 rund 210.000. In dieser Rechnung fehlen aber noch vier Gruppen von Abtreibungen:

1. die vom Statistischen Bundesamt jährlich selbst erwähnten Abtreibungen, die unter falschen Ziffern abgerechnet werden,

2. jene, die im Ausland durchgeführt werden,

3. die weiterhin vorkommenden heimlichen Abtreibungen und

4. die Reduktion von Mehrlingen, die vor allem nach In Vitro-Fertilisationen vorgenommen werden.

Hier werden nach der künstlichen Befruchtung mehrerer Eizellen jene, die nicht in die Gebärmutter implantiert werden, vernichtet. Der Begriff "Mehrlingsreduktion" ist die jüngste semantische Verschleierung der Tötung ungeborener Kinder. Er verdient es nicht weniger als der Ausdruck "Kollateralschaden" für die Tötung von Zivilisten im Kosovo-Krieg, zum Unwort des Jahres deklariert zu werden.

Diese vier Gruppen von Abtreibungen tauchen weder in der Statistik des Statistischen Bundesamtes noch in jener der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen auf. Nach Vermutungen in der Bundesärztekammer während der 80er Jahre wurden rund zehn Prozent der Abtreibungen unter falschen Ziffern abgerechnet, und nach einer Allensbach-Untersuchung 1988 wurden 14 Prozent aller Abtreibungen im Ausland durchgeführt. Die illegalen Abtreibungen, die im Memminger Prozeß gegen den Gynäkologen Theißen in beträchtlicher Zahl ans Licht kamen, werden bei zwei Prozent angesetzt.

Nach der Neuregelung des Abtreibungsstrafrechts 1995 und der Anullierung der Kassenfinanzierung für die nicht indizierten Abtreibungen ist zu vermuten, daß die unter falscher Ziffer abgerechneten Abtreibungen eher gestiegen, die im Ausland durchgeführten eher zurückgegangen sind. Die Abtreibungsstatistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung weist für 1996 32.853 Eingriffe nach Ziffer 1060 (Ausräumung einer Blasenmole oder einer missed abortion; 1997: 32.695) und 217.605 Eingriffe nach der Ziffer 1104 (Abrasio der Gebärmutterhöhle und des Gebärmutterhalskanals; 1997: 222.939) aus. Hinter beiden Ziffern, vor allem hinter der Ziffer 1060, können sich Schwangerschaftsabbrüche verbergen. Da die privat und/oder über die Beihilfe abgerechneten Fälle in dieser Statistik nicht enthalten sind, wären auch diese Zahlen noch einmal um rund 15 Prozent zu erhöhen. Veranschlagt man für alle vier Gruppen zusammen 25 Prozent der Abtreibungen, dann sind die Zahlen für 1996 noch einmal um rund 57.500 und für 1997 um rund 53.500 zu erhöhen. Die Gesamtzahl der Abtreibungen betrug demnach 1996 rund 290.000, 1997 rund 250.000. Dies bedeutet eine Abtreibungsquote von knapp 27 Prozent für 1996 und knapp 24 Prozent für 1997, das heißt auf etwa vier Geburten kam eine Abtreibung.

Wenn der Gesetzgeber an einer genauen Erhebung der Abtreibungszahlen interessiert wäre, gäbe es genug Möglichkeiten für sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte zwecks genauerer Bestimmung der Zahlen der beratenen, der unter falschen Ziffern abgerechneten, der im Ausland oder illegal oder bei einer Mehrlingsreduktion durchgeführten Abtreibungen. Es wäre ihm durchaus möglich, zu präziseren Zahlen zu gelangen als das Statistische Bundesamt.

Niemand wird behaupten wollen, die Reform 1995 habe den Lebensschutz verbessert. Es werden nach der Beratungsregelung noch mehr Kinder getötet als vorher mit der Indikationsregelung. Das den Rechtsstaat konstituierende Verbot der Tötung Unschuldiger wird weiter ausgehöhlt. Allein seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes wurden weit mehr als eine Million Kinder getötet. Die Senkung der Abtreibungszahlen aber war das erklärte Ziel aller Reformen des Abtreibungsstrafrechts, auch der Beratungsregelung von 1995. Dieses Ziel wurde verfehlt. Die vom Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber auferlegte Korrektur- und Nachbesserungspflicht fordert den Deutschen Bundestag deshalb zum Handeln auf.

 

Prof. Dr. Manfred Spieker ist Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück.


 
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