© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/00 05. Mai 2000

 
Die fehlende Hälfte des anderen
Kino II: "Die Frau auf der Brücke" von Patrice Leconte
Ellen Kositza

Jeder will Adèle, doch keiner wollte sie behalten. Vor einem schemenhaft angedeuteten, vielleicht bloß imaginären Publikum berichtet Adèle im Ton geradezu kindlichen Unverständnisses und mit großen, bald nassen Augen von der Liebe, die sie stets enttäuschte. Da war dieser Mann, der sie einmal liebte – auf dem WC einer Autobahnraststätte. Ein anderer nahm sie auf dem Küchentisch. Der nächste wieder zwischen Tür und Angel. Geblieben ist ihr keiner. Verlassen, verloren und wahrhaft unschuldig versteht Adèle, das Engelsgesicht, die Welt nicht mehr, die Liebe ohnehin nicht. Überall Verrat, Verrat an ihrer Hingabe, die allzu willig vielleicht erfolgte, doch stets aus einer tiefen Liebeslust heraus, die nicht nymphomanisch war, keine Jagd, sondern Suche.

Was aber ist das Leben wert, wenn das Glück stets flieht, fragt sich Adèle und findet sich eines Nachts auf einer Brücke, bereit zu springen. Da tritt ein Mann neben sie. Es ist Gabor, um einiges älter als sie, von Beruf Messerwerfer. Gabor stand schon oft nachts an Brücken. Hier findet er Frauen, die alles aufgegeben haben und die er einlädt, doch mit ihm zu arbeiten – als lebendige Zielscheiben. Sie möge doch mit ihm gehen, bietet er dem Mädchen an, und: "Sie wollen doch nicht wirklich springen?" Adèle springt in die eisigen Fluten. Gabor auch. Sie könnten untergehen, das wäre wahrscheinlich, doch sie erreichen das Ufer und ziehen gemeinsam los. Nicht als Liebespaar, vielmehr als Künstler und seine Muse. Die Luft vibriert zwischen ihnen, und bei den spektakulären Auftritten der beiden ist offensichtlich Magie im Spiel. Gabor schleudert seine gewaltigen Messer mit verbundenen Augen, ohne Adèle auf der Drehscheibe zu verletzen. Das ist phänomenal, einzigartig, und einzigartig ist überhaupt die Zeit, die die beiden miteinander verbringen. Ein eigener Zauber, sich in Symbolen verdichtend, liegt über allem, was sie tun, und was sie auch beginnen, gelingt vorzüglich. Doch der Pfad des Lebens in vollkommenem Glück gleicht letztlich einem Drahtseil, und Adèle und Gabor trennen sich, grundlos beinahe. Sie geht, er läßt sie. Jeder lebt sein eigenes Leben fort, doch werden die Tage traurig, beide erscheinen nur mehr als fehlende Hälfte des anderen. Doch nichts ist für immer – auch der Abschied nicht und die Einsamkeit.

Es mag erstaunen, daß es tatsächlich gelingt, eine solche Liebesgeschichte zu erzählen, ohne einmal auch nur in die Nähe des Grates geraten, jenseits dessen allgemeines Sentiment schwelgt und die Gefilde seicht zu werden beginnen. Keine triefenden Schwüre, keine abgehalfterte Erotik werden bemüht, um den Film durch leichtverständliche Allgemeinplätze gängiger zu gestalten. Diese Geschichte lebt von unverbrauchten Bildern.

Als Mitte der achtziger Jahre das dämliche Kinderlied des Popsternchen Vanessa Paradis rund um die Uhr im Radio dudelte, hätte kaum jemand vermutet, daß aus der "Sängerin" eine ernstzunehmende Filmkünstlerin werden würde. Hier spielt sie die Adèle, ihr Filmpartner, mindestens ebenbürtig, ist der profilierte Schauspieler Daniel Auteuil. La fille de sur pont, so der Originaltitel dieses Films des einigermaßen renommierten Regisseurs Patrice Leconte, wurde für acht Césares – das französische Pendant des Oscar – nominiert.

Ein grandioser Schwarzweiß-Film mit optimaler Besetzung: Einmal mehr der Beweis, daß das französische Kino mit kleinen Mitteln große Geschichten zu erzählen versteht.


 
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