© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/00 05. Mai 2000

 
Demokratischer Flurschaden
Moritz Schwarz

Er habe früher auf den Vorwurf, die Franzosen dächten ja nicht an die Wiedervereinigung, seinen deutschen Gegenübern stets zurückgegeben: "Ihr ja auch nicht!" Der Pariser Politologe Alfred Grosser bot seinen Zuhörern am vergangenen Donnerstag in der Berliner Konrad-Adenauer-Stiftung so manche treffend-kritische Betrachtung. Im Mittelpunkt stand freilich die aktuelle Politik, deren Personal sich in den letzten Monaten nicht nur in Frankreich als erschreckend skrupellos erwiesen hat. Wofür Grosser in seiner bekannten Mischung aus wertliberaler Strenge und realpolitischem Humor auch klare Worte fand.

Doch dann begann er Politik durch Weltanschauung zu ersetzt: Die Verfehlungen vieler dieser Politiker träten letzlich doch vor deren Verdiensten zurück. Für ihn wiegt offenbar die Instituionalisierung liberaler Weltanschaung – supranationaler Staat und vereinzeltes Individuum – schwerer, als die politische Redlichkeit mit der dies bewerkstelligt wird. Weh dem Sozialisten oder Konservativen, der seiner Weltanschauung solchen Vorrang vor der Politik gäbe. Die "republikanischen Garden" zögen auf der Stelle blank.

Grossers detaillierte Ansichten lassen erkennen, daß sich hier noch einer auskennt in seinem Weltbild und sich bewußt entschieden hat. Daß es sich auch beim Liberalismus um eine Ideologie handelt, ist ja dagegen dem gemeinen Parteipolitiker von heute nicht einmal mehr durch Erklärungen zu vermitteln, weil ein Brunnenfrosch sich Wasser einfach nicht als Meer vorstellen kann. Die demokratische Idee, daß Politik der Ausgleich der verschiedenen Weltanschauungen in einem Volk durch den gemeinsamen Staat ist, ist heute völlig verdrängt. Längst hat die in Europa siegreiche Anschauung des Liberalismus an diese Stelle den Interessenausgleich verschiedener Flügel innerhalb einer Weltanschauung gesetzt.

Diese Sicht der Dinge entspricht freilich vielmehr schon den Vorstellungen des orthodoxen Kommunismus, in dessen Vorbereitungsphase, dem Sozialismus, ja bekanntlich auch die verschiedenen, noch aus bürgerlichen Zeiten stammenden Interessen im Zeichen der neuen, großen proletarischen Einigkeit aus- und angegelichen werden müssen.

Grossers Eintreten für einen strukturdemokratischen Liberalismus, statt einer Demokratie mit liberaler Struktur, also für demokratische Sicherheit, statt demokratischer Freiheit, erklärt sich sicher aus seinem Erleben des Nazi-Terrors. Persönlich tolerant, geht er politisch lieber "auf Nummer sicher", bis hin zum Flurschaden an der Volkssouveränität.


 
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