© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/00 05. Mai 2000

 
Die Erinnerung als Zivilreligion
Über Strömungen innerhalb des modernen Judentums
Ivan Denes

Die seit einigen Jahren andauernde Restitutionsoffensive jüdischer Organisationen gegen europäische Unternehmen geht einerseits auf die neue, zentrale Rolle des Holocaust im jüdischen Bewußtsein zurück, andererseits auf die veränderte Machtposition des amerikanischen Judentums. Wie Stuart Eizenstat, stellvertretender US-Finanzminister, feststellte, ist das amerikanische Judentum in den letzten zwei Jahrzehnten aus einer Minoritätsposition ins Zentrum der US-Gesellschaft gerückt.

Der erste sichtbare Ansatz für die Kongruenz dieser beiden Faktoren auf internationaler Ebene ergab sich in der Kampagne gegen Kurt Waldheim (1986). Der Jüdische Weltkongreß (JWC-Jewish World Congress), der als Speerspitze dieser Aktion gedient hatte, verlor zwar den Kampf, und Waldheim wurde gewählt, aber zum ersten Mal wurde der jüdischen Öffentlichkeit außerhalb Israels bewußt, wie groß und weitreichend die Macht ist, über die sie verfügt. Es sei an dieser Stelle an den vielsagenden Satz des Alt-Bundeskanzlers Helmut Kohl erinnert, der, als er in einem RTL-Interview gefragt wurde, warum er die Initiative für das Berliner Holocaust-Mahnmal nicht ablehne, antwortete: "Was glauben Sie, was dann auf uns zukommt an der amerikanischen Ostküste..."

Das Paradoxe an dieser Machtposition, bzw. an der Angst, die diese Machtposition beim politischen Establishment Europas auslöst, ist, daß sie aus – historisch gesehen – bisher noch nie gekannter Schwäche entstand. Denn noch nie war die jüdische Öffentlichkeit derart gespalten wie zur Zeit. Es gibt nur eine einzige Klammer, die die verschiedenen politischen und geistigen Strömungen zusammenhält: der Holocaust, bzw. die mit allen Mitteln wachgehaltene Erinnerung daran, oder genauer: der Kult des Holocaust, denn "erinnern" kann man sich nur an etwas Erlebtes, die Kampagne wird aber überwiegend von Leuten geführt, die die Kriegsjahre nicht erlebt haben.

Alles was bisher in Sachen "Entschädigung" diskutiert wurde, ist das mittelbare Ergebnis eines Vorganges, der sich in den USA abgespielt hat: die Inaugurierung der größten neuzeitlichen Tragödie des jüdischen Volkes zwecks jüdischer Identitätsstiftung. Maßgebliche Historiker stellen daher sogar die Frage, ob nicht durch diese zentrale Bedeutung, die der Holocaust im kollektiven jüdischen Bewußtsein einnimmt, Hitlers Versuch einer Endlösung eine späte Schlüsselrolle in der Zeitgeschichte zugefallen ist. Nicht zuletzt wird auf moralischer Ebene die Erinnerung an den Holocaust durch unzählige Museen, Lehrstühle, Highschool-Curricula und die Massenmedien wachgehalten, primär um dem "schleichenden Holocaust" entgegenzuwirken. Darunter versteht man eine rasante demographische Entwicklung: Der Anteil der Mischehen hat bei den amerikanischen Juden schon 1990 die Schwelle von 52 Prozent überschritten – somit droht ein Aufgehen des amerikanischen Judentums im großen "melting pot" innerhalb der nächsten zwei bis drei Generationen. Dieser Assimilationsdruck von einmaliger Heftigkeit ist als eine der Hauptströmungen im modernen Judentum zu betrachten. Er geht Hand in Hand mit dem evidenten Abbau der religiösen Komponente jüdischer Selbstbestimmung sowie mit dem Schrumpfen einer spezifisch jüdischen Kultur innerhalb des US-Judentums.

Welche zentrifugalen Tendenzen kompensiert die systematisch betriebene, von Peter Novick jüngst als Prozeß der "Mythologisierung" des Holocaust analysierte Formierung des jüdischen Bewußtseins? Welche sind die gegensätzlichen Strömungen im heutigen Judentum, die das Holocaust-Bewußtsein integrieren soll?

Wenden wir uns zunächst der Lage in Israel zu. Die erste große Bruchlinie geht dort quer durchs ganze Judentum: Orthodoxie gegen konservative und Reformjuden. Da die Orthodoxie in Israel etwa 20 Prozent der jüdischen Bevölkerung darstellt, wird ihre politische Vertretung (Shas – Partei, Aguda, Nationalreligiöse Partei) zu einem "Muß" bei jeder Koalitionsbildung, was den theokratischen Grundzug Israels konsolidiert. Bemerkenswert ist, daß sich die Orthodoxie zur Holocaust-Problematik nur selten und schüchtern äußert; der wenig bekannte Weltbund der Orthodoxen hat sich direkt und kategorisch gegen materielle Wiedergutmachungen gewandt. Die Orthodoxie wird mit Sicherheit mitreden, wenn Ministerpräsident Ehud Barak seine eigene Position in dieser Frage bestimmt. Er hat bisher nur sinngemäß gesagt, daß er sich als Ministerpräsident aller Juden der Welt betrachte. Das läßt vermuten, daß Barak das Mandat, das noch der ermordete Ministerpräsident Rabin dem Präsidenten des Weltkongresses, Edgar Bronfman, gab, um auch im Namen Israels die Restitutionsansprüche zu vertreten, womöglich zurücknehmen könnte. Eine juristische Rolle bei der bevorstehenden Auseinandersetzung zwischen dem WJC und der Regierung Barak wird die bisher ignorierte Tatsache spielen, daß in den achtziger Jahren die Knesset versuchte, den Holocaust-Opfern die israelische Staatsangehörigkeit post mortem zu verleihen. Das hätte Israel als vermeintlichen Erben glaubhafter erscheinen lassen als den WJC, der sich lediglich auf die Ben Gurion/Nahum Goldmann-Vereinbarungen mit Konrad Adenauer als Präzedenzfall berufen kann. Michael Melchior, Minister für Diaspora-Angelegenheiten, hat denn auch kürzlich eine Neuordnung der Claims Conference gefordert, um Israel die Federführung in den Verhandlungen mit den Europäern zu übertragen.

Aber die Orthodoxie ist in sich vielfach gespalten. Sie reicht von den Anhängern des Satmarer Rebbe (Teitelbaum), die den Staat Israel nicht anerkennen, bis zu den relativ modernen Nationalreligiösen. Ferner ist der Gegensatz zwischen sefardischen (orientalischen) Juden und aschkenasischen (europäischen) Juden zu beachten. Innerhalb der aschkenasischen Israelis bilden die russischen Einwanderer (seit 1985 etwa 800.000) eine Gruppe, deren Assimilierung sich besonders schwierig gestaltet. Dabei darf man nicht übersehen, daß, jenseits aller Spaltungen, unterschwellig die tiefe, schon vom Erziehungssystem eingeimpfte Überzeugung verharrt, daß die Welt zweigeteilt ist, in "wir" und "sie", wobei die andere, die "goische", Welt letztendlich "uns" gegenüber im besten Fall abgeneigt ist, im schlimmsten Fall "uns" verschwinden sehen möchte.

Von gewisser Relevanz ist auch noch die Tatsache, daß die Organisationen der in Israel lebenden Holocaust-Überlebenden (ca. 180.000) in offenem Konflikt liegen mit US-jüdischen Organisationen, die die Restitutionsverhandlungen führen, mit Anwälten, die die class actions vor US-Gerichten betreiben, aber auch mit der eigenen Regierung. Sie monieren, daß sie nicht ausreichend bei Verhandlungen vertreten seien, daß anglojüdische Organisationen und Anwälte übertriebenene Anteile am erstrittenem Geld fordern. Der israelischen Regierung wiederum werfen sie vor, sie enthalte Holocaust-Opfern ihre deutsche Rente vor.

Kommen wir zu ähnlich unübersichtlichen Frontverläufen in den USA. Die Beziehungen Israels zu der größten jüdischen Diaspora-Gemeinschaft haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Das Interesse an Israel hat merklich nachgelassen, was sich im sichtbaren Rückgang des Spendeaufkommens niederschlägt. Man muß erkennen, daß das amerikanische Judentum trotzdem die im höchsten Grad durchorganisierte ethnische Gemeinschaft der Welt ist. Aber die Vielfalt der Organisationen führt auch zu heftigen internen Kämpfen. Die Organisationen bestimmen wesentlich das Bild, das sich die internationale Öffentlichkeit von dem Einfluß und der Politik des US-Judentums macht, das – insoweit diese Politik nicht mit der US-Politik direkt im Einklang liegt – eine eigenständige, weltweit wirkende Macht darstellt.

Edgar Bronfman sitzt dem WJC, einer weltumfassenden Organisation vor, der die Dachorganisationen der meisten nationalen Gemeindeföderationen angehören und deren überaus aggressive Linie der Direktor Elan Steinberg und der Generalsekretär Rabbi Israel Singer diktieren. Unter dem weltweiten Dach gibt es jedoch keine stringente politische Linie, auch nicht in Restitutionsfragen. Die Führung der französischen Juden lag hier in offenem Konflikt mit dem WJC. Und die Organisation der Schweizer Juden widersprach mehrfach dem WJC während des Ringens mit den Schweizer Banken.

Von dem WJC zu unterscheiden ist der American Jewish Congress (AJC), eine weniger bedeutende, etwas linkslastige Organisation (Präsident Jack Rosen, Direktor Phil Braun). Der AJC wird oft verwechselt mit dem American Jewish Committee (Präsident Jack Rosen, Direktor David Harris), der ältesten ethnischen Organisation des US-Judentums, das seit etwa einem Jahr auch in Berlin eine eigene Vertretung unterhält. Es ist eine aggressive Organisation, die sich auch in Fragen der US-Außenpolitik einmischt.

Die B’Nai Brith (Söhne des Bundes) Logen sind in insgesamt 57 Länder vertreten. Entsprechend der großen Bedeutung, die die Freimaurerei in den angelsächsischen Ländern historisch eingenommen hat, ist auch der Einfluß der B’Nai Brith in den USA (Präsident: Richard D. Heideman) einzuschätzen. Ein Ableger der BB-Logen, ursprünglich gegründet zur öffentlichen Bekämpfung des Antisemitismus, ist die Anti-Defamation League (Direktor Abraham Foxman). Bemerkenswert ist, daß Foxman, selbst Holocaust-Opfer, kategorisch gegen die Jagd auf Wiedergutmachungsgelder Stellung bezieht. Seine These: Man werde den Kampf um die Erhaltung der Erinnerung mit einem Rennen der Juden nach Geld verwechseln.

Das Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles, geleitet von zwei fanatischen Fundamentalisten – Rabbi Marvin Hier und Rabbi Abraham Cooper – ist die radikalste Organisation. Ihre Forderungen sind völlig maßlos – wie etwa jene, der Vatikan möge allen katholischen Schulen in der Welt die Pflicht auferlegen, ein Holocaust-Curriculum einzuführen. Die Stellungnahmen des Zentrums sind oft so verwegen, daß sogar der greise Simon Wiesenthal sich von den beiden Rabbinern distanziert hat. Es gibt noch zahlreiche große Organisationen, wie etwa Hillel, die Studentenorganisation, die auf jedem US-Campus präsent ist; oder den Verbund jüdischer Medien; das Joint Distribution Committee, das weltweit karitativ aktiv ist, sowie den Rat der Vorsitzenden der wichtigsten jüdischen Organisationen, der das offizielle Kontaktorgan zum Weißen Haus ist.

Zwar keine "Strömung" innerhalb des Judentums, aber – angesichts der Konfrontation des Judentums mit europäischen Regierungen und Unternehmen – sind die jüdischen Anwälte nicht zu übergehen. Spezifische Züge des US- Justizwesens wie class actions (Sammelklagen) begünstigen die Versuche, in Europa eine Art moralisches Diktat 55 Jahre nach Kriegsende in Europa zu errichten. Dabei stehen diese Anwälte meistens nicht in Einklang mit der Strategie jüdischer Organisationen. So hat zum Beispiel Ignatz Bubis, der auch stellvertretender Vorsitzender des WJC war, den "Opferanwalt" Ed Fagan offen wegen seiner "Habgier" attackiert.

Eine vergleichbare Rolle spielt ein vom New Yorker Stadtkämmerer Alan Hevesi geknüpftes Netzwerk. Etwa 900 Stadtkämmerer und hohe Finanzfunktionäre quer durch die Vereinigten Staaten gehören zu Hevesis Gefolgsmännern, die immer bereit zu sein scheinen, auf Knopfdruck Boykottmaßnahmen zu beschließen oder wenigstens damit zu drohen – was einmal mehr die Behauptung unter Beweis stellt, daß der Holocaust über alle anderen jüdischen Belange hinaus längst zu einer handfesten Komponente der US-amerikanischen Politik geworden ist.


 
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