© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/00 05. Mai 2000

 
Private Weltmacht
Forschungsdefizite in der Geschichte des deutsch-jüdischen Verhältnisses
Irene Casparius

Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs hat Gustav Adolf Walz, neben Carl Schmitt, Wilhelm Grewe und Viktor Bruns ein Gelehrter aus der ersten Reihe der deutschen Völkerrechtswissenschaft, einige Fragen thematisiert, die bis heute nichts von ihrer politischen Brisanz verloren haben: Wie steht es um die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von privaten Organisationen? Wie ist ein Wirtschaftsboykott, den Private androhen oder durchführen, im zwischenstaatlichen Verhältnis zu klassifizieren? Welche Folgen hat eine "nebenamtliche illegale Außenpolitik" für das System internationaler Beziehungen?

Walz hat den damals aktuellen Bezugspunkt seiner Reflexionen nicht deutlich benannt. Und doch ist erkennbar, daß er mit den "wirtschaftlich und propagandistisch agierenden Privaten", den "anonymen Mächten", jene jüdischen Organisationen in Westeuropa und in den USA meinte, die, wie es in den Erinnerungen des einstigen JWC-Präsidenten Nahum Goldmann heißt, seit 1933 bemüht waren, eine beklagenswert durchlässige Boykottfront gegen das Dritte Reich aufzubauen.

Die "Entschädigungsfrage", seit Jahren Schlagzeilenthema mit höchstem Erregungspotential, hat die alten Konstellationen und Fragestellungen revitalisiert. Und damit zugleich eklatante Informationsdefizite offenbart. Das gilt natürlich zunächst für jene, die während des Disputs um die "Schuld" der Schweizer Banken flugs mit den üblichen Verschwörungstheorien aufwarteten. Was die Publizistik aus gemeinhin "revisionistisch" genannter Ecke auf diesem Sektor europaweit zu bieten hat, ist ja ohnehin von indiskutablem Niveau, da den hier tätigen Freizeithistorikern schon die simpelsten handwerklichen Fähigkeiten abgehen. So muß bei ihnen das Ressentiment in der Regel ersetzen, was an wissenschaftlicher Solidität für sie sowieso unerreichbar ist.

Wo der Zugang zu einer gemeinhin als "heikel" bezeichneten Materie nicht derart versperrt ist, bei den professionellen Zeithistorikern, ist zu konstatieren, daß sie den gesamten Komplex fast vollständig anglojüdischen Kollegen wie Peter Novick oder Norman Finkelstein überlassen haben. Forschung zur Geschichte der großen jüdischen Organisationen findet deutscherseits nicht statt. Die Zentren der deutschen Amerikastudien, etwa das John-F.-Kennedy-Institut der FU Berlin, auch das vom Auswärtigen Amt mitfinanzierte Deutsche Historische Institut (DHI) in Washington, umgehen die Thematik weiträumig. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte seit 1994 eine für die deutsch-amerikanischen Beziehungen zeithistorisch überhaupt relevante Arbeit, nämlich die des stellvertretenden DHI-Direktors Christoph Mauch: dessen Habilitationsschrift über die US-Geheimdienste zwischen 1941 und 1945. Und dies vor dem Hintergrund, daß sich die DFG rühmt, mit den USA wissenschaftliche Beziehungen von "einzigartiger Dichte und Vielfalt" zu unterhalten. Wer nicht nur die DFG-Jahresberichte studiert, sondern die der großen Stiftungen von VW und Thyssen oder jene der zeithistorisch engagierten Stiftungen der "Volks"-Parteien, der sucht auch dort in der jeweiligen Rubrik "Laufende Forschungsvorhaben" vergeblich nach der bescheidensten Dissertation, die sich des Themas annähme. Kein Wunder daher, wenn die Werke eines der wenigen Außenseiter in der Zunft, der eine Vorstellung davon hat, wie man Literatur recherchiert, Archive benutzt oder Quellenkritik betreibt, Dirk Bavendamms Bücher über F. D. Roosevelts Politik, von Fachrezensenten kleinlaut und zähneknirschend mit dem Kommentar zur Kenntnis genommen wurden, daß man dem Thema Roosevelt-Hitler auf deutscher Seite bisher wohl etwas zu wenig Beachtung geschenkt habe.

Die DFG finanziert seit langem in großem Stil sozialwissenschaftliche und historische Projekte, die sich mit allen Aspekten der Interkulturalität befassen, mit Problemen der Fremd- und Selbstwahrnehmung. Vielleicht wäre unter diesem modischen Etikett auch die Geschichte eines, wie Walz meinte, "privaten" Faktors der internationalen Politik zu erforschen, der als Feindbild und Kollektivsubjekt "Weltjudentum" in singulärer Weise Emotionen weckt und Phantasien speist.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen