© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/00 12. Mai 2000

 
Kolumne
Tag des Sieges
von Heinrich Lummer

Erfreulicherweise ist es am 55. Jahrestag im Lande ruhiger zugegangen als am 50. Für mich fand der Zusammenbruch, das Ende des Krieges und die Kapitulation schon am 12. April statt. Da kamen die Amerikaner ins Städtchen. Einer durchsuchte unsere Wohnung. Er fand den Film für einen Fotoapparat und vermutete, daß ich einen solchen besitze. War aber nicht. Er forderte, daß ich ihn herausgebe und gab der Forderung durch das Ziehen der Pistole Nachdruck. Ich war zwölf. Wie ernst er es meinte, weiß ich nicht. Ich habe überlebt. Aber ich habe den Tag nicht als Befreiung erlebt. Und die vielen durch russische Soldaten vergewaltigten Frauen haben sich gewiß auch nicht befreit gefühlt. Und die Millionen Flüchtlinge auch nicht. Für die Sieger war es auch kein Tag der Befreiung. Sie haben sich als Sieger gefühlt. Und so haben sie sich auch benommen. Sie wollten keine Befreiung, sondern die bedingungslose Kapitulation. Natürlich gab es auch andere Sichtweisen. Für Deserteure, Widerstandskämpfer und KZ-Insassen war er sicherlich eine Befreiung. So waren die Gefühle eben unterschiedlich. Der Tag hat mehrere Gesichter und Bedeutungen. Ihn allein zu einem Tag der Befreiung umzudeuten ist so falsch, wie allein die militärische Niederlage zu sehen.

Im übrigen sind wir auch insofern nicht befreit worden, als man uns die Last der Schuld und geschichtlichen Verantwortung aufgebürdet hat. Daran tragen wir bis heute. Wir haben die Verantwortung übernommen. Das ist richtig so. Nun aber leben wir in der Gefahr, uns von den Blicken zurück nicht trennen zu können. Manche wollen es auch nicht. Sie wollen sich und uns nur als ewig willige Vollstrecker erkennen. Das tut nicht gut. Nur wenn man sich von der Vergangenheit löst, kann man den Tag stärker als Tag der Befreiung erleben. Befreite bittet man nach 55 Jahren nicht mehr zur Kasse.

Sich von der Vergangenheit lösen heißt nicht: Vergessen. Sich lösen soll heißen, den Blick nach vorne richten, um Gegenwart und Zukunft zu bewältigen. Die Zeit ist gekommen, da sollten Verantwortung und Schuld nicht mehr in Dollar gemessen werden, sondern in dem Willen und Bemühen, daß sich schreckliche Geschichte nicht wiederholt. Die Zukunft als Gleicher unter Gleichen mit zu gestalten und mit zu verantworten, ist gefordert. In diesem Sinne mag es heißen: Vorwärts und nicht vergessen. Vorwärts schauen, weil wir gelernt haben, wer ständig in den Rückspiegel sieht, findet weder Weg noch Ziel. Nicht mit dem Auto und nicht als Volk.

 

Heinrich Lummer, Berliner Innensenator a.D., war bis 1998 Bundestagsabgeordneter der CDU.


 
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