© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/00 12. Mai 2000

 
Moral als Atemluft
Adnoten zur Peymannisierung des deutschen Bühnenbetriebs
Jutta Winckler-Volz

Claus Peymann, Chef des Berliner Ensembles, sieht Deutschland auf der Kippe. So orakelte der Großmeister im Einrennen offener Zeitgeisttüren jüngst im Tagesspiegel zu dessen Chefredakteur Giovanni di Lorenzo. Zwei, die sich gesucht und gefunden haben, denn letzterer figuriert in Talkrunden als gleichsam öffentlich-rechtlich geförderter Gemeinplatzhirsch. Österreich, so Peymann, aus dem er habe "fliehen" müssen, sei mittlerweile so weit, daß der Kunde dort umgerechnet fünfzehn Mark für eine Ananas zu zahlen habe. Im übrigen sei Deutschland "traumlos" geworden. Kulturmacker in der deutschsprachigen Hauptstadtkultur vom Schlage Peymanns muten sonderbar an: Hat da etwa ein nonkorrekter Technikfreak alternde Linke von 1972 stracks ins 21. Jahrhundert gebeamt?

Die panischen Repolitisierungsversuche des tonangebenden deutschen Kulturestablishment stellen abermals unter Beweis, was Hellsichtigen seit Jahrzehnten sichere Gewißheit ist: Paßte der "Überbau", das Mentalitäre, Bewußtseins- und Wertmäßige seiner Bewohner schon seit Gründerzeittagen nicht zur basisabhängigen Drift des Landes, so öffnete sich diese Schere unter BRD-Bedingungen noch weiter. Der Schädelinhalt der Deutschen, insbesondere der seiner politischen Eliten, steht in bizarrem Kontrast zu besagter Drift, die aus dem "Land der Dichter und Denker" einen der führenden Industriegiganten machte und aus einer Gesellschaft von Sozialaposteln und Abfederern eine neoliberale Ansammlung von Schweinchen Schlaus werden ließ.

Im protestantisch-dauerdiskutären Kultursegment der BRD wird am wenigsten realisiert, was sich tatsächlich "Epochales" getan hat – nach 1945, nach 1968 (diese skurrilen Bewußtseinslogos!): Der ortsübliche Mentalspuk, die begriffliche Unaufgeräumtheit der Subventionscliquen erlaubt den unablässig Herumwuselnden keinen Blick dafür, welch hoher Preis für die Unterwerfung des deutschen Reichs, des europäischen Hegemons, unter die östliche bzw. westliche raum- und kulturfremde Flügelmacht nach wie vor zu entrichten ist. Ein in der Pose starren Entsetzens verharrendes Bühnenpersonal begreint den Verlust des sozialdemokratischen Layouts, des "reformerischen" Ausgleichs zwischen Klassen und Interessen, Nationen und Regionen. Und sträubt sich mit einer habermashaft anmutenden Mixtur aus realhistorischer Blindheit und parareligiöser Inbrunst gegen die Einsicht, daß es kaum eine gegenwärtige Misere gibt, deren Wurzel nicht in der militätischen Niederlage läge.

Ernst Jünger, gewiß eine gute Adresse für den Zusammenhang, gab zum Schicksal des Reiches und des europäischen Nomos zu bedenken, daß, wer sich im Besitz der höherwertigen Kultur wähne, gerade deshalb die verdammte Pflicht und Schuldigkeit habe, auch die stärkeren Bataillone ins Feld zu stellen. Primat der Kultur! Selbst der frühe, dann wieder der alte Thomas Mann (die man beide nicht bedeutender machen sollte, als es das Hervorgebrachte, zumal im Vergleich mit Musil, Döblin, Bergengruen, Le Fort, Huch, Doderer, Jahnn, Thelen etc. zuläßt) – beide hätten hierzu mit dem Kopf genickt. Nachdem das, was bislang unter Politik verstanden wurde, sich selbst abschafft, indem es unter die Rockschöße des Marktweltwirtschaftens kriecht, tritt in Erscheinung, daß das Politische nicht ohne ein umfassenderes Substrat, das Kulturelle, lebensfähig gewesen ist.

Diese Selbstabschaffung des Politischen im tradierten Sinn, des (National-)Staatlichen, des von einem bestimmten Staatsvolk (re-)produzierten Institutionellen, geht einher mit Preisgabe von Kultur, näherhin jener kulturellen Prägung, die sich nur als das Ergebnis einer raum- und zeitbezogenen Entwicklung verstehen läßt. Daß nach der Kapitulation Alteuropas von 1945, nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht bloß Teile des abendländischen (wie des japanischen) Nomos (im Sinne von tradierter Ordnungsgestalt des gesamten Daseins) zur Debatte standen, sondern neben Militär, Recht, Politik und Wirtschaft das Kulturelle insgesamt, je länger desto mehr, attackiert werden würde, dämmert den hiervon Betroffenen erst neuerdings. Das medial vorgeturnte Drei-Tage-Entsetzen über die "feindliche Übernahme" deutscher Unternehmungen durch angloamerikanische Interessenten gehört zum üblichen "kommunikativen" Beiwerk dessen, was sich hierzulande parteiengestützt verantwortungsträgerisch vor der Wählerschaft ("die Bevölkerung") in die Brust wirft.

Europa schickt sich an, auch kulturell nichts zu sein als die Gegenküste der Ostküste. Blind, korrupt oder naiv ist, wer nicht sieht oder sehen will, daß die gegenwärtigen Umtriebe nur die konsequente Fortsetzung des damals Begonnenen sind, zumal sich kein Regime in Europa, gar in EU-Europa, dem Einfluß der eigenen schlagkräftigen "fünften Kolonne" Washingtons entziehen kann. Schwer vorstellbar, unter welchen Bedingungen sich derlei abstellen ließe.

Einstweilen aber reden Peymann, Tabori, Castorf, Kresnik u.a. als eine Art Tick, Trick und Track, bundesdeutsche Kulturmilliarden im Kreuz, Dagobert Duck ins Shareholder-Gewissen. Mit tausendundeinem Ballett. Mit neunundneunzig Stücken, mit unappetitlicher Sprache und mickrigem Symbolfundus. Moral als Atemluft. Deutsches Krähwinkeltum, schrullige Realitätsverweigerung, Blaue-Blumen-Suche mit Intendantensalär. Der Inhalt solch deutscher Kultur ist der zu allem entschlossenen Konsumarmada der G-8-Weltordnung eben keineswegs substanziell entgegengesetzt.

Adorno hätte es noch gewußt: Dieser elend teure Bühnentalmi fungiert gleichsam spiegelbildlich als Antwort auf das "Seufzen der Kreatur" (Marx) – nicht des Proletariats, sondern einer vor den Zumutungen des systemfunktionalen Konkurrenzstresses ins Irrationale fliehen wollenden Monadenmännchens, Monadenweibchens.

Daß ein Peymann sich über diese Zusammenhänge tatsächlich nicht im klaren sein sollte, fällt schwer zu glauben, wenn man bedenkt, daß er jenes Alter erreicht hat, in dem sich, zumal bei feinsinnigen Künstlernaturen, gesichtsfelderweiternde Zeitdistanz, abgeklärte Aufklärungsskepsis und moralinferner Zynismus einzustellen pflegen. Das ewiggleiche Beschwören der Freiheit des Individuums, sein Kampf gegen die diversen Fremdbestimmungen der sogenannten modernen Gesellschaft, das Herumkaspern in Maskeraden zum Zwecke der politisch-moralischen Besserung mehr oder weniger adrett herausgeputzter Zugangsberechtigter: Das ist zopfig-biedermeierlich, hat sich überlebt wie die "bürgerliche" Epoche, der diese Besserungsversuche entstammen. Am ehesten ist es noch der Megafetisch "Arbeitsplätze", der dem hierzulande flächendeckend sprießenden Bühnenwesen seine Fortdauer sichert. Das Interesse des Publikums kann es nicht sein. Die Subventionsmittel haben von Steuerbürgern aufgebracht zu werden, die zu neun Zehnteln niemals auf den Gedanken verfallen würden, sich gegen die Fährnisse des Alltags mit Theaterweisheiten zu wappnen.

Das Sprechen und Gestikulieren, das Simulieren und Räsonnieren, das unendliche Kreisen um Schuld und Schuldschuld, das Herumdrechseln an der ewiggleich gemodelten Vergangenheit, das FKK-Gewusel auf den Brettern deutscher Stadttheater, das alles ist museales Relikt, ist, als Kunstübung an sich, so ägyptisch petrifiziert, ist so anachronistisch, daß geschichtslose Gebilde wie die BRD-Gesellschaft ("Von Irgendwo nach Nirgendwann") nicht länger anstehen sollten, die betriebswirtschaftliche Rentabilitätsdiskussion zu beginnen.

Der deutschen Bühnenverantwortungsträgerschaft möchte man sieben überbrückungsgeldabgefederte Jahre zur intensiven Lektüre der Werke Friedrich Nietzsches, Carl Einsteins, Rudolf Borchardts, Theodor Adornos, Arnold Gehlens, Carl Schmitts und Niklas Luhmanns wünschen: Bewährte Medikamente gegen den neurotischen Zwang, der Nation, der Gesellschaft, Europa und der Welt unablässig die Jakobiner-Werte des Freihandels vorturnen zu müssen.


 
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