© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/00 12. Mai 2000

 
CD: Jazz
Verfremdungen
Michael Wiesberg

Ludovic Navarre gilt als Pionier des "French Touch", worunter in Frankreich die neue elektronische Musik verstanden wird. Daß Navarre den Status eines Insider-Tips der französischen Musik-Szene schnell hinter sich gelassen hat, liegt an seinem 1995 erschienenen Album "Boulevard" das inzwischen als Klassiker eingestuft wird. Jetzt hat Navarre unter dem Pseudonym "St. Germain" für das Jazzlabel Blue Note Records (deutscher Vertrieb: EMI Electrola Köln) ein Album mit dem Titel "Tourist" vorgelegt, das ebenfalls das Zeug zu einem Klassiker hat. Schon der Eröffnungstitel "Rose Rouge" schlägt aufgrund seiner Dynamik, die sich einem stakkatohaften Drum’n Bass und filigranen Saxophonläufen verdankt, den Hörer sofort in seinen Bann. Auch danach flacht das Niveau nicht ab, sondern setzt mit der mitreißenden House Nummer "So flute" noch einen drauf. Eine Klasse für sich in diesem Stück: das Querflötenspiel von Edouard Labor. Erstaunlich, wie nüchtern Navarre seine Qualitäten auf den Punkt bringt: "Ich bin kein Musiker. Am besten bin ich mit der Computermaus. Um ehrlich zu sein, hatte ich nach ’Boulevard‘ überlegt, keine Musik mehr zu machen. Es erschien mir alles verkehrt: ein Weißer, der Housemusik macht." Richtig hat Navarre auf jeden Fall mit seiner Entscheidung gelegen, weiter Musik zu machen. Dabei ist Navarre beileibe nicht auf House fixiert, sondern gehört einem Jazz-Quintett an, dessen Mitglieder er in St. Germain-en-Laye kennenlernte. Alle diese Musiker haben am "St.Germain-Projekt" und damit auch an dem neuen Album Navarres mitgewirkt.

Von dem 1992 verstorbenen Saxophonisten und Vokalisten Jim Pepper gibt es jetzt eine neue Quartett-CD mit dem Titel "Flying Eagle. Live at New Morning, Paris"(Vertrieb: Tutu-Records Starnberg) zu hören. Die darauf versammelten Live-Mitschnitte aus dem Jahre 1989 stammen allerdings nicht nur aus Paris, sondern auch aus Innsbruck und Tampere. Das indianisch inspirierte Cover kommt nicht von ungefähr. Pepper war indianischer Abstammung und hat diese ethnische Prägung in seine Musik einfließen lassen. Laut eigener Aussage wurde er dazu von den Jazzmusikern Don Cherry und Ornette Coleman ermutigt. Pepper gelang es, indianische Gesänge in eine Art Jazz-Rock-Folk-Fusion zu übersetzen, die auf einzigartige Art und Weise mit seinem Namen verbunden bleiben wird. Von der musikalischen Ausdrucksstärke dieser Musik legt das neue Album, auf dem neben Pepper Mal Waldron am Piano, Ed Schuller am Baß und John Betsch am Schlagzeug zu hören sind, beredtes Zeugnis ab. Höhepunkte dieser Aufnahmen sind die Stücke "Somewhere over the rainbow" und "Legacy of the flying Eagle". Daß die Mitschnitte des Albums vorrangig auf ein Live-Konzert in Paris zurückgehen, ist kein Zufall. Pepper tat sich schwer mit der US-amerikanischen Kultur und Zivilisation; viel lieber war er in Paris und trank einen guten französischen Wein. Wie inspirierend dieser wirken kann, davon möge sich der Hörer selbst überzeugen.

Ebenfalls bei dem Starnberger Jazz-Label Tutu-Records sind die "Violin Tales" von Hannes Beckmann erschienen. Diese Quartett-CD weist eine illustre Besetzung auf: Beckmann selbst ist Professor für Jazz-Violine, Michael Blam Professor für Kontrabaß, der Pianist Edgar Wilson war Gulda-Schüler, der zwischen Jazz und Klassik pendelt, und Imre Köszegi Professor für Schlagzeug. Soviel akademische Kompetenz, zumal im Jazz, läuft immer Gefahr, steril zu werden. Nicht so dieses Album, das im Booklet treffenderweise mit den Bildern des expressionistischen Malers Emil Nolde verglichen wird: "...bizarre Verfremdungen neben Alltäglichem, Düsteres neben Beglückendem, aber auch Faszination neben Details, dabei aber niemals die große Linie aus den Augen verlierend".


 
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