© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/00 12. Mai 2000

 
Lenin an der Macht
Orlando Figes: Die Tragödie eines Volke
Holger von Dobeneck

Dieses Buch des anglojüdischen Historikers Orlando Figes ist voluminös und teuer. Doch es ist seinen Preis wert. Wer glaubt, dicke Bücher seien unverdaulich, den überzeugt Figes vom Gegenteil. Denn wie einem Epiker gelingt es ihm, Geschichte plastisch zu gestalten. Er berichtet über eine schaurige Epoche. Anhand von Einzelschicksalen und atmosphärischen Verdichtungen vergegenwärtigt er das Panorama einer Zeit und eines Landes. Er nennt es die "Tragödie eine Volkes". Gemeint ist das russische Volk, doch man kann es auch als Drama der anderen Insassen dieses Völkergefängnisses, besonders der Juden, die darin eine tragische Doppelrolle spielten, interpretieren.

Wie Sonja Margolina stellt Figes die Juden als Täter und Opfer dar und exemplifiziert so die Thesen Ernst Noltes. Überhaupt wird bei der Lektüre beklemmend deutlich, welche dialektischen Bezüge die russische Geschichte mit der deutschen verbinden. Figes schildert Rußland am Vorabend der Revolution als Vorhof der Hölle. Doch wie bei Dante ziehen die Ereignisse weitere Kreise, einer schrecklicher als der andere. Er macht deutlich, daß der große Terror nicht erst bei Stalin begann, sondern schon bei dem vermeintlich guten Lenin irreversibel angelegt war. Eine Erkenntnis, die mit Blick auf das – seinerzeit freilich kaum rezipierte – Meisterwerk des deutschen Osteuopahistorikers Peter Scheibert, "Lenin an der Macht" (1984), nicht eigentlich originell ist. Aber Figes zieht Scheiberts Linien aus. Mitunter ins scheinbar Anedoktische: Auf die Frage des Volkskommissars Steinberg, ob man das Volkskommisariat für Justiz nicht besser umbenenne in "Kommisariat für soziale Ausrottung", antwortete Lenin, daß dieser Ausdruck ihm gefiele und auch den Tatsachen entspräche, doch dürfe man diese leider nicht so nennen. Die Revolution war in der Tat ein sozialer Holocaust. Figes stellt sich die Frage, ob ihre Grausamkeit nicht vielleicht nur Folge der "asiatischen" russischen Natur sei. Damit meint er die Kulaken, die Bauern, die die Seele dieses Volkes ausmachten und in der Tat ein kurzes, wildes, von Gewalt bestimmtes Leben führten. Sie pflegten ein traditionelles Mißtrauen gegenüber jeglicher Autorität außerhalb des Sippenverbandes. Sie tranken maßlos, schlugen hemmungslos ihre Frauen und neigten dazu, Viehdiebe sadistisch-brutal zu bestrafen. Sie existierten in unglaublichem Schmutz und Elend, so daß man ihre Lebensumstände mitunter kaum von ihrem Vieh unterscheiden konnte. Dabei waren sie bei anderen Gelegenheiten von beinahe übermenschlicher Güte und Hilfsbereitschaft, doch sie blieben ein Rätsel für die westliche Mentalität. Sie entwickelten ungeheuren Haß auf ihr Herrschaftssystem, und als die Revolution es gestattete, entlud er sich in einer wahren Orgie der "Kulturzertrümmerung". Es erstaunt nicht, daß das westliche Bürgertum wahre Alpträume bekam, wenn es in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts an die nicht so ferne Möglichkeit einer kommunistischen Revolution in Deutschland dachte. Die Bilder waren ja noch so frisch. Damals in Rußland genügte es, einen Menschen als Adligen, Priester oder Bürger zu bezeichnen, und schon hatte man beinahe eine Lizenz zum Töten.

Im vorrevolutionären Rußland war die schlimmste Gewalt gegen die Juden gerichtet. Es gab von 1883 bis 1914 über 900 registrierte Pogrome. Der Polizeipräsident in St. Petersburg verfügte über eine geheime Presse, die unaufhörlich Pamphlete produzierte, in denen man die Juden des Umsturzes beschuldigte. Eines davon mag auch jene verhängnisvollen "Protokolle der Weisen von Zion" gewesen sein. Doch ist es wie eine self-fulfilling prophecy. Denn in der Tat war die erste marxistische Gesellschaft ein jüdischer Arbeiterverein, und die späteren Kommissare der Tscheka waren überproportional häufig Juden, Polen oder Letten. Der in der weißen Gegenrevolution folgende Terror machte deshalb keinen Unterschied mehr zwischen Juden und Kommunisten. Alle Klischees späterer Jahre prädisponierten schon den "Frühling" der Revolution. Sonja Margolina und auch Orlando Figes weisen immer wieder darauf hin, daß es nur eines kleinen Schrittes bedarf, um ein Opfer-Kollektiv – in diesem Fall die Juden des Zarenreiches – in einen Aggressor zu verwandeln.

Der Terrorinstrument der Revolutionsjahre war die Tscheka, sie war ein Staat im Staate. Es gab kaum einen Lebensbereich, den sie nicht kontrollierte. Praktisch jeder konnte aufgrund der Denunziation eines Feindes oder nur aus der Laune eines örtlichen Parteichefs heraus willkürlich verhaftet werden. Es gab zu jener Zeit kaum eine Familie, in der nicht ein Mitglied "verschwand". Es war ja Lenins Prinzip, daß es besser sei, hundert Unschuldige zu inhaftieren oder zu liquidieren, als einen Staatsfeind ungeschoren zu lassen.

Lediglich die spanische Inquisition konnte es mit den Foltermethoden der Tscheka aufnehmen. Jede örtliche Einheit hatte ihre eigene Methode. In Kiew befestigten sie einen Käfig voll hungriger Ratten am Körper des Beschuldigten, die sich dann bis in die Eingeweide vorfraßen. In Charkow herrschte die "Handschuh-Methode" vor. Die Hände des Opfers wurden in kochendes Wasser gelegt und die Haut abgezogen. In Woronesch rollten sie nackte Körper in nagelbewehrten Fässern. Es gab einen besonderen Typus des Peinigers, den Kommissar mit Lederjacke und pomadisiertem, streng zurückgekämmtem Haar, der Machorka rauchte und sein Macho-Gehabe stilisierte. Dieser Typus wurde in der Revolutionsromantik der 68er oft imitiert. Von der Tragik der Elterngeneration zur Komik nachfolgender Generationen ist es meist nur ein kliner Schritt.

Das auslösende Ereignis der Oktoberrevolution war das siegreiche deutsche Ostheer, das tief nach Rußland eingdrang. Der Friede von Brest-Litowsk und die daraufhin erfolgten Zahlungen des Deutschen Reiches ermöglichten die Revolution. Damals hatten viele Deutschen erstmals die Gelegenheit, die wahren Lebensumstände des russischen Volkes kennenzulernen. So festigte sich in der deutschen Armee ein zutiefst negatives Rußlandbild. Ein Bild, daß die Revolutionäre der ersten Stunde teilten und mit dem sie ihren grenzenlosen Terror legitimierten.

Lenin wollte die Übel durch eine vollkommene Militarisierung der Gesellschaft in den Griff bekommen. Der Individualismus sollte abgeschafft und die Standardisierung des russischen Menschen planmäßig betrieben werden. Alexandra Kollontai richtete Büros für freie Liebe ein, die Frau wurde Staatseigentum, und es gab für die Männer ein Recht, sich eine Frau zur Fortpflanzung auszusuchen.

Es folgten, nach gewöhnlichem Terror, Bürgerkrieg und Rechtlosigkeit, Jahre unfaßbaren Hungers. Es gab ganze Rayons, in denen blanker Kannibalismus herrschte. Bilder bezeugen diesen Schrecken. Kinderfleisch wurde in schummrigen Schenken feilgeboten, auf Friedhöfen fand Leichraub statt. In manchen Dörfern trieben nachts Kinderbanden ihr Unwesen, die Betrunkene umzingelten und töteten. In Pugatschow organisierte sich eine Menschenfresserbande. Figes bestätigt mit diesem Pandämonium jene Literatur der dreißiger Jahre, die man nach 1945 als Erzeugnisse Goebbelscher Propaganda indizierte.

Das beeindruckendste Kapitel ist dem Charakter Lenins gewidmet. Es ist überschrieben mit "Lenins Rage". Dieser Charakter trug stark puritanische Züge. Das Leitbild des reinen "Willensmenschen" Lenin beschreibt der Revolutionsroman Tschernyschewskis: "Rachmetow", der Protagonist, der sich bis zur Selbstaufgabe nur einer Aufgabe widmet. Dieser Roman kann als Lebensskript Lenins gelesen werden. Abstrakter politischer Haß und kalte Grausamkeit, verbunden mit rigider Selbstkasteiung waren seine Wesensmerkmale. Entsprechend war für Lenin das Proletariat das, was für den Metallarbeiter das Erz ist: reines Objekt seiner Bearbeitung.

Nur aus Lenins Charakter und seinem Kriegskommunismus ist verständlich, daß er zum direkter Vorläufer der Stalinschen Kollektivierung und der großen "Säuberung" wurde. Stalins Bauprojekte konnten nur durch ein Sklavenheer in Angriff genommen werden. Hunderttausende von Häftlingen mußten ohne Hilfsmittel Schneisen in die Tundra schlegen, eine danteske Szenerie, bei der Hunderttausende starben. Die Sowjetarmee war die einzige Armee der Welt, die ihre eigenen Soldaten liquidierte, wenn sie in Gefangenschaft geraten waren. Diese roboterhafte Unmenschlichkeit war nicht allein Stalins Werk – aus ihr atmet auch der Geist Lenins.

 

Orlando Figes: Die Epoche der Russischen Revolution 1891–1924, Berlin Verlag, Berlin 1999, 975 Seiten, 98 Mark


 
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