© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/00 19. Mai 2000

 
Das gewisse Emotionale
Dieter Stein

Bundespräsident Johannes Rau hielt am vergangenen Freitag in Berlin eine Rede, für die er viel Beachtung wünschte. Er hat in der Rede wesentliche Probleme erstaunlich deutlich angesprochen, die mit Einwanderung in Deutschland zusammenhängen. Es gelte "falsch verstandene Ausländerfreundlichkeit zu überwinden", die so tue, als gebe es "überhaupt keine Probleme und Konflikte". Es sei nicht schwer, so Rau, "in wohlsituierten Vierteln eine ausländerfreundliche Gesinnung zu zeigen". Schwerer sei es dort, wo die unterschiedlichen Kulturen aufeinanderprallen, "wo sich manche alteingesessene Deutsche nicht mehr zu hause fühlen, sondern wie Fremde im eigenen Land".

Dennoch spricht Rau, als sei das Problem vom Himmel gefallen. Die politisch Verantwortlichen – und dazu zählt er als langjähriger NRW-Ministerpräsident und führender SPD-Politiker – haben alle frühzeitigen Warnungen in den Wind geschlagen, die gegen eine unkontrollierte Massenzuwanderung sprachen. Ausbaden müssen es diejenigen, die um Arbeit und Wohnraum konkurrieren. Ausbaden müssen es Kinder von Einheimischen und Zuwanderern, die auf Schulen mit katastrophalen Zuständen gehen. Viele Lehrer resignieren an den Problemschulen, lassen sich krankschreiben oder versetzen. Eltern nehmen ihre Kinder von den Schulen und ziehen mit ihnen in Stadtteile um, in denen der Ausländeranteil niedriger ist.

Johannes Rau fordert in seiner Rede verstärkte Integration hier lebender Ausländer, kommt aber zu der Erkenntnis, daß uns offenbar das Einverständnis darüber abhanden gekommen ist, in was sich Ausländer eigentlich integrieren sollen. "Wir brauchen eine gemeinsame Vorstellung davon, wie wir in Deutschland zusammenleben wollen." Im Zeitalter der europäischen Integration wollen wir uns noch mit so etwas rückwärtsgewandtem wie einem nationalen gesellschaftlichen Grundkonsens herumschlagen? Machen wir doch aus Deutschen und Ausländern schlicht Europäer, dann ist das Problem gelöst!

Rau stellt fest, daß papierener Verfassungspatriotismus nicht ausreicht, damit eine Gemeinschaft in guten und in schlechten Tagen solidarisch zusammenhält. Ja, "wir brauchen eine gewisse emotionale Gemeinsamkeit darüber hinaus". Rau fragt, "ob wir in all den Jahren unserer eigenen Identität immer genügend bewußt waren und ob wir genügend selbstbewußt waren, um Neuankömmlinge für uns in einem tieferen Sinne einzunehmen." Ausländer sollten sich nun vertraut machen "mit unseren Wertvorstellungen, unseren Traditionen und ganz besonders mit unserer Sprache".

Lieber Herr Bundespräsident, wie sollen das Ausländer tun, wenn diese Wertvorstellungen, diese Traditionen, diese Sprache sich nicht einmal mehr den hier aufgewachsenen jungen Deutschen erschließen und sie mit Pidgin-Englisch, nationaler Selbstverleugnung und einem diffusen, kosmopolitisch verbrämten Konsumismus groß werden? Wie sollen wir Ausländer in etwas integrieren, was für viele Deutsche nicht mehr existiert: ihre eigene Nation.


 
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