© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/00 19. Mai 2000

 
Unrecht verjährt nicht
Der Havel-Besuch in Berlin und die Benes-Dekrete
Rüdiger Goldmann

Die Tschechische Republik möchte so bald wie möglich in die Europäische Union aufgenommen werden. Seit Jahren prüfen europäische Kommissionen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse anhand der Kopenhagener Kriterien. Voraussetzungen sind ein demokratisch-rechtsstaatliches System und die Einhaltung der Menschenrechte. Im Hinblick auf die Tschechische Republik sehen viele diese Voraussetzungen als erfüllt an. Als Aushängeschild demokratischer und europäischer Gesinnung wird überall – wie jetzt auch wieder in Berlin – der tschechische Staatspräsident Vaclav Havel herumgereicht.

Die europaweit verbreitete Aura des Märtyrers und Dichterpräsidenten verdeckt jedoch die real existierenden Probleme, die Tschechien mit seiner nationalistischen und kommunistischen Vergangenheit hat und die es eben nicht nur auf Hitler, Stalin oder Breschnew zurückführen kann. Es ist richtig, daß deutscher Imperialismus 1939 den Tschechen Unrecht, Leid und Schaden zugefügt hat. Das war zum Teil eine Antwort auf die Aufteilung Österreich-Ungarns, an der Masaryk und der spätere Außenminister und Staatspräsident Eduard Benes aktiv mitgewirkt haben.

Benes ist 1945 verantwortlich für die nach ihm benannten Benes-Dekrete, die immer wieder die Diskussion über die deutsch-tschechischen Beziehungen aufheizen. Insgesamt gibt es 143 dieser Dekrete, die Benes nach seiner Rückkehr aus dem englischen Exil beschließen ließ. Hat sich Bundeskanzler Schröder jemals damit befaßt? Nach seinen jüngsten Äußerungen sind ernste Zweifel angebracht.

Nach Helmut Slapnicka sind bis 1992 von den Dekreten nur sechs aufgehoben worden, während der tschechische Ministerpräsident Zeman und auch Havel immer unbestimmt vom "Erlöschen einiger Dekrete" sprechen. Daß dies eine Verfälschung der Wahrheit ist, läßt sich an verschiedenen Fakten nachweisen.

Wenn die Dekrete gerade im Hinblick auf die verfolgten und geschädigten Sudetendeutschen keine Rechtskraft mehr hätten, wäre auch der Beschluß des Europäischen Parlaments vom 15. April 1999 mit der Aufforderung an Prag, "fortbestehende Gesetze und Dekrete aus den Jahren 1945 und 1946 aufzuheben, soweit sie sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen in der ehemaligen Tschechoslowakei beziehen", überflüssig gewesen. Vor allem fehlen den vollmundigen Abwiegelungsversuchen aus Prag jegliche konkrete Folgen in der Tschechischen Republik.

Welche Dekrete richteten sich nun 1945/46 insbesondere gegen die im Sudetenland, in Böhmen, Mähren und der Slowakei lebenden 3,5 Millionen Deutschen und die starke ungarische Volksgruppe in der südlichen Slowakei?

Durch das Dekret Nr. 5 verfügte der tschechische Staat die entschädigungslose Enteignung der "Deutschen, Madjaren, Verräter und Kollaboranten". Diese Enteignung wird gegenüber den vertriebenen Sudetendeutschen, aber auch gegenüber den im Land zurückgehaltenen bzw. zurückgebliebenen Deutschen bis heute aufrechterhalten. Der tschechische Bürger Dreitaler aus Reichenberg führte um sein damals enteignetes Vermögen jahrelang und ergebnislos Prozesse, der als Tscheche betrachtete Fürst Schwarzenberg erhielt seine Schlösser zurück. Damit wird eine menschenrechtswidrige Diskriminierung praktiziert, die man in Europa des Jahres 2000 nicht mehr für möglich halten möchte. Die Benes-Dekrete einer "entfernten Geschichte" zuzuordnen, wie dies Vaclav Havel bei seinem Berlin-Besuch tat, ist daher im Widerspruch zu den Tatsachen. Dies gilt auch für die anderen gegen die Sudetendeutschen gerichteten Dekrete.

Im Dekret Nr. 33 wird den Deutschen bescheinigt, daß sie die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft schon 1938 verloren hätten, um damit einen Vorwand für die Vertreibung (tsch. Odsun = Abschub) zu bekommen. "Cistime republiku"–- wir säubern die Republik, verkündeten die Benes-Plakate 1945. Tatsächlich vertrieben die tschechischen Staatsorgane in einer von der gegenüber der wehrlosen deutschen Zivilbevölkerung besonders "tapferen" tschechischen Armee deutsche Staatsbürger von deutschem Staatsgebiet, das sie sich mit Rückendeckung durch die Rote Armee und die Angloamerikaner widerrechtlich einverleibten.

Andere Dekrete (Nr. 71 und Nr. 137) verordneten Zwangsarbeit für Frauen von 15 bis 50 Jahren und Männer von 14 bis 60 Jahren, die häufig mit Verschleppung ins Innere Böhmens verbunden war, und die Haft und deren Verlängerung von "staatlich unzuverlässigen Personen (…) zum Zwecke ihres späteren Abschubs". Der letztere Satz stellt die einzige direkte Erwähnung der beabsichtigten und dann brutal durchgeführten Vertreibung in den Dekreten dar.

Nein, die Benes-Dekrete und die in ihnen festgeschriebene Gesinnung sind leider noch kein Teil einer entfernten Geschichte. Sie sind für die betroffenen Sudetendeutschen nach wie vor Wirklichkeit. Sie verstoßen gegen jedes Bürger- und Menschenrecht. In der Europäischen Union haben sie keinen Platz. Daher verletzen sowohl die deutsche wie die tschechische Regierung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, wenn sie sich nicht nachdrücklich für eine Aufhebung dieser Unrechtsgesetze einsetzen. Das Staatsverbrechen der Vertreibung und der Enteignung kann nicht beschönigt werden und ohne Wiedergutmachung bleiben. Die Menschenrechte gelten für alle, auch für die deutschen Heimatvertriebenen.

 

Rüdiger Goldmann war bis zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen CDU-Landtagsabgeordneter.


 
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