© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/00 19. Mai 2000

 
Kolumne
Recht und Moral
von Klaus Motschmann

Die politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in unserem Volke werden zunehmend von "moralischen" Grundsätzen bestimmt. Gerichtsurteile, Entscheidungen von Behörden, Stellungnahmen von Parteien und Verbänden, deren rechtliche Stichhaltigkeit nicht zu bezweifeln sind, werden trotzdem scharf kritisiert, weil sie unserer "moralischen Verantwortung" oder gar der "Verpflichtung" dieser oder jener Minderheit gegenüber nicht gerecht würden. In der Diskussion um die sogenannte Green Card war zum Beispiel zu hören, daß Deutschland die Einwanderung nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus moralischen Gründen brauche.

Diese Argumentation ist höchst bedenklich, um eine zurückhaltende Formulierung zu wählen, weil sie sich eines absolut unverbindlichen Begriffes bedient, aus dem sie absolut verbindliche politische Forderungen ableitet. Die ganz naheliegende Frage lautet doch, von welcher Moral die Rede ist. Wo kann man sich schnell und zuverlässig über den religiös-weltanschaulichen Ursprung, über die wichtigsten Grundsätze und vor allem über das Ziel dieser "Moral" informieren? Im Alten oder Neuen Testament? Im Koran? In den diversen Menschenrechtserklärungen seit der Aufklärung? Im Kommunistischen Manifest? In den Grundsatzprogrammen unserer Parteien und weltanschaulichen Verbände? Orientiert sich diese Moral an der Gesinnung des Einzelnen oder der Verantwortung einer Gruppe, und falls ja, welcher: der Rasse, der Klasse, der Masse?

Fragen über Fragen, auf die es ungezählte Anworten, aber keinen verbindlichen Konsens gibt. Der Konsens besteht allein darin, daß ein Volk sich in bestimmten Fragen nicht einig werden kann und daß diese Fragen deshalb nur im Rahmen des Grundrechtskatalogs der Verfassung von Fall zu Fall behandelt werden können. Sie können aber nicht nach Maßgabe einer bestimmten Moral für alle verbindlich entschieden werden, wie es in totalitären Gesellschaftsordnungen der Fall ist. Dazu Herbert Krüger in seiner "Allgemeinen Staatslehre" (1966): "Diese Grundrechte entfalten ihre integrierende Wirkung dadurch, daß sie dem Bürger Gewißheit verschaffen, ... in seinen eigenen Auffassungen und Empfindungen geachtet und geschützt zu werden".

Die Verantwortlichen in Gesellschaft und Politik sollten diesen Zusammenhang von Recht und Moral endlich wieder deutlich erkennen lassen; am besten dadurch, daß sie dem unverantwortlichen Treiben eifernder Moral-Apostel unmißverständlich widersprechen.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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