© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/00 19. Mai 2000

 
Den roten Faden fest in der Hand
Vor 125 Jahren fand der Einigungskongreß der deutschen Sozialdemokratie statt
Dierk Kähler

Ein rundes Geburtstagsjubiläum kann dieser Tage die Sozialdemokratie in Deutschland zelebrieren, wenn sie es dann möchte. Vor 125 Jahren fand vom 22. bis 27. Mai 1875 in Gotha der Einigungskongreß der beiden damals größten und wichtigsten sozial(istisch)-demokratischen Bewegungen bzw. Parteien statt. Es waren dies der "Allgemeine Deutsche Arbeiterverein" (ADAV) und die "Sozialdemokratische Arbeiterpartei" (SDAP). Für die deutsche Sozialdemokratie allemal Grund zum Innehalten und Resümieren. Schließlich wurde während dieser fünf Tage der rote Faden der politischen Leitlinie in die Hand genommen und seither, nimmt man die Grünen als eine in ihren Grundsätzen sozialistische Partei, nicht mehr losgelassen.

Erste nennenswerte Ansätze einer politischen und sozialen Arbeiterbewegung entstanden in Deutschland bis zu den 1860er Jahren hauptsächlich im aufkeimenden Vereinswesen. Diese Arbeiterbildungsvereine befaßten sich jedoch weniger mit politischen und sozialen Problemen als vielmehr mit allgemeinen Bildungsfragen und der Verbesserung der beruflichen Qualifikation. Einer der späteren Führer der Sozialdemokratie, August Bebel, begann seine politische Karriere in eben diesen Arbeiterbildungsvereinen, allerdings in denjenigen liberaler Färbung. Am 23. Mai 1863 kam es seitens der Arbeiterbewegung dann mit der Konstituierung des "Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" (ADAV) zur Bildung eigenständiger politischer Programme. Die etwa 1.000 Gründungsmitglieder kürten den Breslauer Anwalt und Publizisten Ferdinand Lassalle (1825–1864) zu ihrem ersten Präsidenten und übernahmen das von ihm verfochtene und auf den Radikalsozialisten Louis Blanc zurückgehende Prinzip der zentralisierten Führungskader unter Verzicht auf innerparteiliche Demokratie.

Lassalle verfügte als Vorsitzender de facto über diktatorische Vollmachten und rechtfertigte dies mit der Überlegung, daß "die Präsidialgewalt so diktatorisch sein muß, um die Dinge vorwärts zu bringen". Nach seinem Duelltod wurde dann auch sein Nachfolger (per Testament!) von ihm höchstselbst als Präsident des ADAV eingesetzt, ohne daß es eine Mitgliederentscheidung dazu gegeben hätte. Das politische Programm des ADAV zeigte sich konsequenterweise stark von Lassalle beeinflußt, indem es radikaldemokratisch ein gleiches Recht für alle in einem demokratisch organisierten Staat forderte. Ebenso sollten die Arbeiter an der Produktion und den Gewinnen beteiligt werden.

Ferner sollte das Dreiklassenwahlrecht durch ein allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht abgelöst werden. Auch lehnte der ADAV den Föderalismus ab und präferierte die großdeutsche Lösung unter Führung des preußischen Staates. Bemerkenswert ist die bereits damals bestehende Animosität gegenüber jeglicher Ausbildung von "Eliten". So dachten schon die ersten Sozialdemokraten an die Abschaffung der Realschulen und Gymnasien zugunsten von Gesamtschulen.

Der andere, eher gemäßigtere Flügel der politischen Arbeiterbewegung begann sein Wirken 1869 mit der Gründung der "Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" (SDAP) in Erfurt und setzte sich aus ehemaligen Lassalleanern und den Mitgliedern des Vereinstages deutscher Arbeitervereine (VDAV) zusammen, mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht als namhaftesten Vertretern. Ihr auf dem Eisenacher Gründungsparteitag verabschiedetes Programm unterschied sich von dem des ADAV vor allem in der Ablehnung der preußisch-bismarckschen Politik, dem Bekenntnis zu Bündnissen mit dem liberal-demokratischen Bürgertum und der Betonung der Internationalität der Arbeitersolidarität. Ansonsten waren die Forderungen beider Parteien nahezu identisch. Ein großer Unterschied jedoch bestand in der innerdemokratischen Ausrichtung der SDAP mit ihrem jährlich stattfindenen Parteikongreß.

Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 zeigte bald, wie nahe sich die beiden Arbeiterparteien standen und – nach erfolgreicher Beendigung des Krieges und der Reichsgründung begannen verschärfte Repressionen die politische Entfaltung der Arbeiterpartien zu erschweren – wie ähnlich ihre politischen Schwierigkeiten waren. Dies führte zu einem stärkeren Zusammenrücken und schließlich 1875 in Gotha zum Zusammenschluß zur "Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands", deren Gründungskongreß im wesentlichen auf das Eisenacher Programm zurückgriff. Jedoch gab es seitens der sozialistischen Vordenker Karl Marx und Friedrich Engels scharfe Kritik wegen zu starker Zugeständnisse an die Lassalleaner. Die Organisationsprinzipien waren weitgehend demokratisch, oblag doch die Arbeit des Vorstands der Kontrolle einer Kommission, die jeweils durch die Parteikongreßdelegierten gewählt wurden.

Nach der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 gaben sich die deutschen Arbeiter schließlich nicht nur ein in neues Grundsatzprogramm, sondern änderten auch den Namen ihrer Partei in SPD.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen