© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/00 26. Mai 2000

 
Fortleben sowjetischer Geschichtsbilder
Eine Podiumsdiskussion in der katholischen Universität Eichstätt
Alfred Schickel

Zum Thema "Der Zweite Weltkrieg: Erfahrungen und Ergebnisse" hatte die Katholische Universität Eichstätt eine Reihe ausgewiesener Zeithistoriker und Politiker geladen, um mit der nötigen historischen Tiefenschärfe kontrovers über den Stand der deutsch-russischen Beziehungen zu diskutieren.

Die deutschen Gesprächspartner konnten zunächst mit einigem Erstaunen zur Kenntnis nehmen, daß sich die Russen auch zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges noch ideologisch belastet als "Sowjetmenschen" betrachten. Aus der Parallele zu dem Umstand, auf den freilich nur im Flüsterton hingewiesen wurde, daß in Deutschland sogar im Abstand von 55 Jahren noch "Hitler-Gespenster" mitregieren, entwickelte sich dann eine zweite Überraschung. Russischerseits beharrte man nämlich darauf, daß Hitler und Stalin nicht auf eine Stufe gestellt werden dürften. Der deutsche Diktator habe den Krieg entfesselt, nicht Stalin. Hitler sei der Imperialist gewesen und habe Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, während Stalin nie über fremde Völker herrschen wollte. Auch der Pakt mit Hitler habe nur dem Schutz der UdSSR gedient.

Mit dieser Interpretation war der Kremlchef aus seiner Mitverantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges befreit. Eine Deutung, die auch heute noch dezidiert sowjetische Kontinuitäten konserviert. Vielleicht ist dies auch dem Lebensalter vieler russischer Disputierer gschuldet. Die meisten von ihnen, wie etwa der Diplomat Vladislav Terechev oder der Militärpolitiker Nikolaj Besborodov, sind vor 1990 zu Botschafterehren oder Generalssternen gekommen. Kritik an Stalin muß von ihnen immer auch als "Beleidigung der Väter und Großväter" empfunden werden.

Deshalb häuften sich in der Diskussion, an der auf deutscher Seite die Osteuropa- und Militärhistoriker Leonid Luks, Karsten Ruppert, Franz Seidler und Gerd Ueberschär teilnahmen, gängige Verdikte und Anklagen in Sachen "Überfall", "Vernichtungskrieg" und Behand-lung sowjetischer Kriegsgefangener. Dazu kamen Seitenhiebe auf die Westmächte, die Hitler gefördert hätten. Kleine Korrekturversuche deutscherseits schob man als "irrig" beiseite. Schon gar nicht mochte man Seidlers Einwand gelten lassen, daß die Forschungen über die Ursachen des deutsch-sowjetischen Krieges keineswegs abgeschlossen seien, die Präventivkriegsthese noch zur Diskussion stehe, das ius ad bellum sorgsam vom ius in bello zu trennen sei und ohne objektive Würdigung dieser Gegebenheiten nicht von einer abschließenden Historisierung des Zweiten Weltkrieges gesprochen werde dürfe. Selbst der Hinweis auf Hitlers eigentlichen Geburtsort – Versailles – wurde in Eichstätt fast als Tabubruch gewertet. Diese russischen Empfindlichkeiten spürte man auch während des am Rande geführten Schlagabtausches über den Tschetschenienkonflikt, wo man deutsche Kritik als unerwünschte Einmischung zurückwies.

Als Fazit dieser Tagung darf man festhalten: An der Schnittstelle zwischen sowjetischer Vergangenheit und russischer Gegenwart schienen sich die Gäste wund zu reiben. Eine gewisse, Halt und Orientierung versprechende Dogmatisierung des ererbten Geschichtsbildes ist die Folge dieser Verletzbarkeit, für die die russischen Gesprächspartner in Eichstätt viel Verständnis fanden.

Das half in diesen Tagen um den 8. Mai herum, einen anderen heiklen Punkt der deutsch-russischen Beziehungen zu überbrücken. Haben doch die Kriegsverlierer von 1945 augenscheinlich eine bessere "Zeit nach dem Elend" erreicht als der Sieger im Osten. Inzwischen hat die Rechts- und Wirtschaftsordnung des Verlierers zudem Modellstatus in den früheren Ostblockländern gewonnen. Ein deutscher Diskutant belegte dies mit statistischen Angaben aus Weißrußland und der Ukraine und stach damit unversehens in eine neue offene Wunde seiner patriotischen Gesprächspartner von der Moskva. Erst die Klärung, daß mit der konstatierten Attraktivität Deutschlands nirgends der Wunsch nach einem "Anschluß" an den Verlierer von 1945 einhergehe, beruhigte die aufgebrachten Gemüter.


 
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