© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/00 02. Juni 2000

 
Abwehr aus den Sternen
US-Raketenschild: Am Beginn einer neuen Aufrüstungsspirale
Michael Wiesberg

US-Regierung und Kongreß lassen derzeit keinen Zweifel daran, daß sie fest entschlossen sind, das seit einigen Wochen in den Medien intensiv diskutierte Vorhaben einer nationalen Raketenabwehr (NMD) in die Realität umzusetzen. 12,5 Milliarden Dollar ist dieses Projekt schwer, das eine abgespeckte Variante der von Ronald Reagan 1983 angestoßenen "Strategic Defense Initiative" (SDI) darstellt. Die Proteste Rußlands, Chinas und einiger europäischer Verbündeter, darunter u.a. Deutschland, haben die Amerikaner scheinbar unbeeindruckt gelassen. Es muß deshalb davon ausgegangen werden, daß das NMD-Programm, gleichgültig unter welchem US-Präsidenten, Realität wird.

Bleibt es bei dem von den USA angekündigten Zeitplan, dann wird das NMD-Programm im Jahre 2005 mit der Einrichtung eines Radarsystems und einer Batterie mit hundert Abfangraketen in Alaska gestartet werden. Ab 2010 soll dann ein weiteres Abwehrsystem gegen moderne Interkontinentalraketen hinzukommen. Damit einher soll die Modernisierung zweier Radaranlagen in Grönland und Großbritannien gehen. Die Amerikaner haben diese Pläne mit dem angeblichen Bedrohungspotential begründet, das von den sogenannten "Schurkenstaaten" Irak, Iran oder Nordkorea insbesondere gegen die USA ausgehen soll. Die angesichts der militärischen Möglichkeiten der USA eher bescheidenen Möglichkeiten dieser Staaten dürften kaum ein hinreichender Grund für ein derart ambitiöses
Programm sein. Angenommen, einer die-ser Staaten würde sich tatsächlich entschließen, eine oder mehrere Interkontinental-raketen in Richtung USA zu schicken. Der zu erwartende Vergeltungsschlag der USA würde so vernichtend ausfallen, daß eine derartige Attacke einem Selbstmord gleichkommen würde. Eine derartige Politik verfolgen selbst Politiker nicht, die von den USA als "Schurken" eingestuft werden.

Ein wesentlich überzeugenderes Motiv für das amerikanische Raketenabwehrprogramm dürften wohl in den massiven Anstrengungen der chinesischen Volksbefreiungsarmee (VBA) sein, den waffentechnologischen Rückstand gegenüber den USA Stück für Stück zu verringern. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang ein Bericht der Washington Post vom 4. November 1998, in dem davon die Rede ist, daß die VBA nicht nur für den Cyberkrieg rüste, sondern auch an Laserwaffen zur Zerstörung von US-Satelliten baue. Diese chinesischen Anti-Satelliten-Waffen ("Asats") sollen in der Lage sein, die Sensoren der Überwachungssysteme auf den Satelliten zu zerstören. Besonders gefährdet seien, so die Washington-Post, die Satelliten des US-Geheimdienstes National Reconnaissance Office (NRO), dessen Existenz bis vor kurzem noch von den USA in Abrede gestellt wurde, und die der National Security Agency (NSA). Darüber hinaus sollen die chinesischen "Asats" das militärisch wie zivil so wichtige "Global Positioning System" (GPS) gefährden können. Seine Effizienz hat das GPS erstmals im Golfkrieg 1991 bewiesen. Während der achtziger Jahre haben die USA einige Satelliten mit dem Namen "Navstar" in den Orbit gebracht, die ständig Signale aussenden. Soldaten der US-Army, aber auch Zivilisten, die über ein ensprechendes Empfangsgerät verfügen, das diese Signale zu empfangen kann, sind dadurch in der Lage, ihren Standpunkt auf der Erde exakt zu bestimmen. Im Golfkrieg zeigte sich bald, welche Vorteile das GPS bei taktischen Operationen bietet. Dieses System muß aus heutiger Warte als für die militärische Planung unentbehrlich eingestuft werden.

Daß die USA die chinesischen Vorhaben als unmittelbare Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit empfinden, dürfte sich von selbst verstehen. Dies gilt um so mehr vor dem Hintergrund der Tatsache, daß der Weltraum in den letzten Jahren mehr und mehr zu einer globalen Informationsstruktur für viele Belange geworden ist. Seien es nun internationale Finanztransaktionen, Nachrichten, Wetter- oder Informationsdienste, Telekommunikation oder andere Informationsdienste: Die US-Wirtschaft, aber auch die europäischen Wirtschaft, sind mehr denn je von Satelliten abhängig. Deren Schutz ist deshalb zu einer conditio sine qua non militärstrategischer Überlegungen geworden. Den USA dürfte es deshalb nicht nur um die Abwehr von potentiellen Massenvernichtungswaffen gehen. Ihre Interessen im Weltraum sind, wie der Hinweis auf die globale Informationsstruktur zeigt, sehr viel weitgefächerter.

Dazu kommt ein weiteres: Der Begriff der nationalen Sicherheit hat sich mit dem Ende des Ost-West-Antagonismus verändert. Er erstreckt sich mittlerweile keineswegs nur auf den militärischen, sondern auch auf den geheimdienstlichen und wirtschaftlichen Sektor. Daß die USA bei der Verfolgung ihrer Interessen mögliche nukleare Aufrüstungsprogramme Rußlands oder China in Kauf zu nehmen bereit sind, dürfte sich einer Überlegung verdanken, die George und Meredith Friedman in ihrem Buch "The Future of War", das den Untertitel "Power, Technology & American World Dominance in the 21st Century" (New York, 1998) trägt, wie folgt beschrieben haben: "Das zentrale Problem der militärischen Strategie sind die furchterregenden Nuklearwaffen, die das militärische Denken zersetzt haben. Ungeachtet dieses Potentials an Massenvernichtung gingen aber die Kriege unvermindert weiter. Diese Kriege wurden gewonnen und verloren; die Geschichte ging weiter. Alles dies vergrößert die Wahrscheinlichkeit, daß trotz der großen Bedeutung nuklearer Waffen für die militärische Planung deren aktuelle Bedeutung weit geringer ist, als allgemein angenommen wird."


 
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