© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/00 02. Juni 2000

 
Kolumne
Schuldkultur
von Klaus Hornung

Mit zwiespältigen Gefühlen geht man in diesen Tagen durch die alt-neue Hauptstadt Berlin. Der Blick von der Terrasse des Reichstags geht auf eine einzige Baustelle in Ost und West, Ausdruck eines robusten Aufbauwillens, aber auch eines unsicheren Stilwillens: Erinnert der Potsdamer Platz an ein Imitat der USA, so der Neubau des Kanzleramts an ein Regierungsgebäude im Orient zwischen Mittelmeer und Bagdad. Dazwischen ist das geschäftige Treiben der Regierungsleute und Parlamentarier zwischen Reichstag, Brandenburger Tor und Friedrichstraße zu sichten.

Das Areal des geplanten Holocaust-Mahnmals neben dem Brandenburger Tor ist jetzt in seinem Umfang von mehreren Fußball-Feldern deutlich zu erkennen. Wird es seiner Absicht des Erinnerns an das Grauenhaft-Unfaßbare, von dem die große Mehrheit der Deutschen nichts wußte und an dem sie nicht beteiligt war, gerecht werden oder lediglich dazu dienen, die Politik unseres Landes in Unterwerfungsgeist zu halten? Werden die Menschen unterscheiden können zwischen erinnerndem Ethos und vorauseilendem Gehorsam gegenüber fremdem Willen? Wird den kommenden Generationen die deutsche Geschichte wie eingedampft erscheinen auf die 12 Jahre und den Holocaust?

Und was sollten die Kritzeleien der Sowjetsoldaten vom April 1945, die man im Reichstag als eine Art "Kunst am Bau" nun unter Denkmalschutz gestellt hat? Soll das "Geschichtsunterricht" sein oder ist es nur ein masochistisches Suhlen in der Katastrophe, das wir bei manchen heutigen Politikern, vor allem des Nachwuchses, immer häufiger beobachten, ein Baustein zu Fischers "Gründungsmythos Auschwitz" der zweiten deutschen Republik? Die Erinnerung an den Reichstag vor 1933 ist ohnedies im neuen Reichstag seltsam blaß geblieben, die Erinnerung an die Windthorst, Bennigsen, Stresemann oder Paul Löbe.

Als der Präsident Estlands, Lennart Meri, vor einigen Jahren das Wort von der deutschen "Canossa-Republik" prägte, fügte er hinzu, daß man einem Land nicht trauen könne, das sich rund um die Uhr in Schuldbekenntnissen ergeht. Er hat damit das Unbehagen der Nachbarn an der neudeutschen Schuld- und Sühnekultur ausgedrückt, einen kollektiv-neurotischen Befund, hinter dem aber auch der Appell steht an Vernunft und Maß im Verhältnis zwischen Ethik und Politik. Das heutige Berlin zeigt an vielen Stellen: Nicht die Deutschen, wohl aber nicht unerhebliche Teile ihrer medialen und politischen Klasse sind schuldneurotisch und wissen in ihrem Unterbewußten, daß allein darauf ihre "Macht" beruht.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politikwissenschaften an der Universität Stuttgart-Hohenhein


 
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