© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/00 02. Juni 2000

 
Trauert Deutschland dem Reich nach?
Frankreich: Die Kritik von Jean-Pierre Chevènement an Fischers Europa-Rede sorgt für Unruhe
Charles Brant

Das mediale Gezeter, das einige Äußerungen des französischen Innenministers provoziert haben, zeigt, wie sehr die deutsch-französische Freundschaft den Franzosen ans Herz gewachsen ist.

Nach dem deutsch-französischen Gipfel in Rambouillet schien in der besten aller Welten alles zum besten zu stehen. Kurz vor Antritt ihrer EU-Ratspräsidentschaft hatte sich die französische Regierung wieder ihrer deutschen Amtskollegen besonnen. Jacques Chirac und Lionel Jospin konnten sich wieder ihren dringlichsten Problemen widmen: dem Fünfjahresplan, der weniger eine echte Reform der französischen Behörden darstellt als eine willkommene Gelegenheit, sich gegenseitig Scharmützel zu liefern. Am Sonntag, dem 21. Mai war der deutsch-französische Frieden vorbei: In einem Interview mit dem Fernsehsender France 2 antwortete der französische Innenminister Jean-Pierre Chevènement auf Fragen bezüglich Joseph "Joschka" Fischers "Europa-Rede" in der Berliner Humboldt-Universität: "Wir haben es hier mit dem Bestreben Deutschlands zu tun, ein föderales Europa nach dem eigenen strukturellen Muster zu schaffen. Im Grunde trauert Deutschland dem Heiligen Römischen Reich nach. Und es hat sich noch immer nicht von der Entgleisung erholt, die der Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte darstellt; Deutschlands Verständnis der Nation ist das einer Volksgemeinschaft, das heißt ein ethnisch konzipiertes. Um einen reibungsloseren Dialog mit Frankreich zu gewährleisten, müßte man den Deutschen helfen, die Vorstellung von der Nation als Gemeinschaft der Staatsbürger zu entwickeln."

Jean-Pierre Chevènement hat aus seiner ablehnenden bis feindseligen Haltung gegenüber der EU – erst recht aber gegenüber einem föderalistisch gedachten Europa – nie ein Hehl gemacht. Dieser "republikanische Sozialist" wirkt wie ein Anachronismus im Herzen der neuen, pluralistisch orientierten französischen Linken. Besonders den Grünen und der Intelligenzija ist er ein Dorn im Auge. Ein gewisser Charme geht ihm dabei trotz allem nicht ab, und bei Teilen der Rechten hat er nicht zuletzt wegen seines bewußt gepflegten gallischen Akzents einen Stein im Brett.

Diesem standhaften Jakobiner und leidenschaftlichen Fürsprecher der "republikanischen Integration" ist ganz offensichtlich nicht bewußt, daß seine "Gemeinschaft von Staatsbürgern" nur ein frommer Wunsch sein kann in einem Land, das sich gerade anschickt, im Rundfunk- und Fernsehprogramm ethnische Quoten einzuführen, um den Forderungen von Interessengruppen nachzukommen. Chevènement hat sich im Zeitgeist getäuscht. Von seinen Äußerungen ist den Wächtern über die politische Korrektheit nur die "Entgleisung, die der Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte darstellt", im Gedächtnis geblieben. Über die Lektion, die Chevènement den Deutschen zu erteilen gedenkt, regte sich niemand auf, und das ist bei der gegenwärtigen Stimmung in Frankreich auch nicht weiter verwunderlich. Chevènements Äußerungen sind die eines Vordenkers einer Konzeption, die in Frankreich gerade im Scheitern begriffen ist. Noch am selben Tag wiederholte er bei einer von der Bürgerbewegung, der er vorsteht, organisierten Gesprächsrunde, das Heilige Römische Reich sei ein "krankhafter Traum Deutschlands, das sich nicht von dem Volksgedanken trennen kann", und forderte die Deutschen zur "Neuerfindung der deutschen Nation" auf. Als erster reagierte Valéry Giscard d’Estaing. Der ehemalige französische Präsident, der soeben auf die politische Bühne zurückgekehrt ist und von dem es heißt, er trüge sich mit dem Traum, europäischer Präsident zu werden, erklärte, er sei "entgeistert" über die "unakzeptablen" Äußerungen des Innenministers. Daniel Cohn-Bendit rief Lionel Jospin auf, seinen Innenminister abzustrafen. Funkstille von seiten Jospins. Peinliche Berührtheit beim Parti Socialiste. Dessen erster Sekretär, François Hollande, bemühte sich um Schadensbegrenzung, indem er Chevènements Stellungnahme mit der Floskel abtat: "So kann man das auch sehen."

Dennoch beeilte Hollande sich, Chevènements Polemik einen Meinungsbeitrag in der Tageszeitung Libération entgegenzusetzen. In diesem bezeugte er, Fischers Rede sei ein "wichtiger politischer Akt" gewesen, da sie den "europäischen Willen des wiedervereinten Deutschlands" bewiese, sie bestätige "dessen Wunsch, die französisch-deutschen Beziehungen als vorrangiges Anliegen zu betrachten bei der gegenseitigen Annäherung zwischen den Völkern und Staaten, die unter der Obhut der Europäischen Gemeinschaft und nun der Union stattfindet". Nach diesen Beschwichtigungen legte Hollande allerdings Wert darauf, "die Rede des deutschen Außenministers in die angemessene Perspektive zu rücken" und "darauf zu achten, daß Horizonte nicht verwischt werden": "Wir werden nicht den Versuch unternehmen, Fischers Vorstellungen zum Anliegen der französischen Ratspräsidentschaft zu machen. Dies würde mit Sicherheit das Scheitern der einen bedeuten, ohne daß der anderen dadurch Erfolg beschert wäre." Er fügte hinzu: "Niemand hat Interesse daran, die Konferenz zwischen den Regierungen zum Scheitern zu verurteilen. Das schlimmste, was wir tun könnten, wäre, uns auf theoretische und allgemeine Debatten einzulassen, anstatt uns um eine Einigung in Fragen zu bemühen, die zwar bescheidener, aber genauso problematisch sind und die derzeit auf der Tagesordnung der Europäischen Union stehen, nämlich ihre Vertiefung vor ihrer Erweiterung." Ähnliches hatte vorher der französische Außenminister Hubert Védrine verlauten lassen.

Heißt das, daß Fischers Projekt den Franzosen mißfällt? Keineswegs. Von den Souveränisten einmal abgesehen, die sich auf die Fiktion eines französischen Alleingangs versteifen, ist der Rest der politischen Klasse durchaus von Fischers Vision angetan. Bis auf ein paar terminologische Feinheiten wurde seine Rede sogar überraschend positiv aufgenommen. Von einem Aufruhr, wie ihn seinerzeit das Projekt von Karl Lammers und Wolfgang Schäuble auslöste, kann diesmal keine Rede sein. Valéry Giscard d’Estaing plädiert für "verstärkte Zusammenarbeit", sprich: Vertiefung statt Erweiterung. Seine UDF ist auf den europäischen Zug aufgesprungen, und der Gedanke einer europäischen Föderation muß Francois Bayrou einfach zusagen. Lionel Jospin, dem die europäische Sache zwar nicht besonders am Herzen liegt, wird den Teufel tun und sein Image als ernstzunehmender Präsidentschaftsanwärter schädigen. Und Jacques Chirac, der ewige Pragmatiker, richtet sich ganz nach dem jeweils vorherrschenden Wind, wobei er immer darauf bedacht ist, seinem Rivalen Jospin zuvorzukommen. Gleichzeitig scheint er fest entschlossen, der französischen EU-Präsidentschaft seine ganz persönliche Note zu verleihen. So hat er den einfallsreichen Alain Juppé als Redenschreiber engagiert und läßt so vielfältige Charaktere wie Daniel Cohn-Bendit und Karl Lammers zur Anhörung kommen. Sein Berater Jérome Monod tingelt derzeit in Begleitung des Psychoanalytikers Ali Magoudi durch Frankreich, um die Bürger für eine Europa-Versammlung, eine europäische Staatsbürgerschaft und eine europäische Verfassung zu begeistern. Dieses Europa soll die Türkei ein-, Weißrußland, Rußland und die Ukraine aber ausschließen.

Kein französischer Politiker kann ernsthaft daran interessiert sein, die EU zu einer Freihandelszone zu verdünnen. Aber auch Fischers Vorstellungen wird hierzulande wohl kein großer Durchbruch beschieden sein, denn die politische Klasse ist derzeit mit anderen Problemen beschäftigt. Ihre eigene Vorstellung von Europa ist eine verschwommene Mischung aus Ökonomismus und dem Zeitgeist entlehnten Grundsätzen. Die Debatte in der Nationalversammlung am 10. Mai belief sich im Ergebnis auf das Thema "Erweiterung oder Vertiefung". Auf diese Weise vermeidet man, den Stier bei den Hörnern zu packen und etwas gegen die politische Ohnmacht der EU zu unternehmen, die beim Kosovo-Konflikt so offensichtlich wurde.

Der Ökonom Jean-Paul Fitousi vom "Observatoire francais des conjectures economiques" (OFCE) hat unterdessen auf das gefährliche Vakuum hingewiesen, das das Fehlen einer klaren politischen Linie mit sich bringt. Für Fitousi, Verfasser eines Zustandsberichtes über die Europäische Union, sind die wichtigsten Zukunftsfragen Europas die der nationalen Souveränität und der Machtverteilung. Er hat weniger Probleme mit der Einschränkung nationaler Souveränität als mit dem ungleichen Kräftespiel zwischen Staaten und "unabhängigen Autoritäten", das Europa in eine bloße Handelszone verwandelt: "Das räumlich gedachte Europa, wie es den derzeitigen Entwicklungen und den schon getroffenen Erweiterungsentscheidungen eingeschrieben scheint, scheint uns keine Zukunftsperspektive darzustellen. Effektiv scheint es uns kaum vorstellbar, daß Europa in seinem Bestreben, die USA zu imitieren, zur einzigen Region der Welt werden kann, die weder ökonomisch noch politisch regiert wird."

Ach ja, auch zum Streit um diekünftigen Inschriften am Berliner Reichstag hat der fließend deutsch sprechende Chevènement eine dezidierte Meinung. Weder dem historischen "Dem Deutschen Volke" noch der geplanten Version "Der Bevölkerung" würde er zustimmen. Seine Empfehlung lautet schlicht: "Der Deutschen Nation".


 
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