© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/00 02. Juni 2000

 
Wonnen des Gewöhnlichen
Anmerkungen zu Marcel Reich-Ranicki anläßlich seines 80. Geburtstages
Thorsten Thaler

Marcel Reich-Ranicki hat es weit gebracht: Herr der Bücher, Literaturpapst, Bestsellerautor, Fernsehstar. Die gängigen Stereotypen fehlen in keiner Rede, in keinem Artikel über den einflußreichsten Kritiker im literarischen Leben der Bundesrepublik. Auch in den Gratulationen zu seinem heutigen 80. Geburtstag werden sie so sicher vorkommen wie das Amen in der Kirche. Mit Respekt vor dem erreichten Alter und der Lebensleistung Reich-Ranickis werden ihn zu diesem Anlaß die feuilletonistischen Edelfedern, Kritiker-Kollegen, Schriftsteller und Intellektuelle papierene Lorbeerkränze flechten und ihn zum wiederholten Male preisen als den meistgelesenen, meistgefürchteten, meistbeachteten und meistgehaßten Literaturkritiker, wie dies Joachim Kaiser schon vor rund zwanzig Jahren getan hat.

"Wie wird so einer, was er ist?" fragt Frank Schirrmacher in einer soeben erschienen Bildbiographie über Marcel Reich-Ranicki. Eine Antwort weiß der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen darauf nicht zu geben. Statt dessen begnügt er sich damit, Reich-Ranickis im vorigen Jahr erschienene Autobiographie zu würdigen und ausführlich einen zwanzig Jahre alten Text zu zitieren, den Sebastian Haffner zum 60. Geburtstag Reich-Ranickis geschrieben hat. Schließlich adelt Schirrmacher – so viel Superlativ muß sein – Reich-Ranicki kurzerhand noch zum "Geschäftsführer des literarischen Weltgeistes". Doch wenigstens die hervorrragenden Fotos entschädigen für die geistige Dünnbrettbohrerei Schirrmachers.

Die Bilder zeichnen Reich-Ranickis Lebensweg nach: von der Kindheit in einem jüdischen Elternhaus in Polen bis 1929 und der Schulzeit in Berlin bis zum Oktober 1938; von der Deportation zurück nach Polen und der Zeit im Warschauer Ghetto, aus dem Reich-Ranicki zusammen mit seiner Frau Tosia im Februar 1943 fliehen kann; von der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der er für die polnische Militärmission und das Außenministerium arbeitet, 1948/49 als Konsul nach London geht und danach in Warschau als Lektor, Übersetzer und Autor tätig ist; schließlich von der Übersiedlung nach Westdeutschland 1958 und dem Aufstieg zur prägenden Figur der bundesdeutschen Literaturkritik.

Es ist "die Unwahrscheinlichkeit dieser Karriere" (Schirrmacher), die Reich-Ranickis Autobiographie "Mein Leben" zu einem Bestseller mit einer Auflage von über einer halben Million verkauften Exemplaren gemacht hat. Die Kritiker des Kritikers feierten die Erinnerungen als herausragendes Zeugnis der Zeitläufte der ersten Jahrhunderthälfte. Ins Hintertreffen bei der Kritik geriet demgegenüber der zweite Teil des Buches, in dem Reich-Ranicki von seinen Begegnungen mit und Reflexionen über Schriftsteller und Autoren erzählt.

Dabei sind diese Passagen nicht minder interessant. So rühmt sich Reich-Ranicki, er habe als Literaturchef der FAZ die völlige Freiheit genossen, jeden Autor unabhängig von dessen politischen Ansichten veröffentlichen zu können. Eine Freiheit, die er ausgiebig nutzte. "Immer häufiger ließ ich Arbeiten linker Autoren, natürlich auch Kommunisten, drucken. Ob das den Herausgebern gefiel, weiß ich nicht. Aber niemand hat es zu beanstanden gewagt."

Zu diesem offenherzigen Bekenntnis passen seine Äußerungen zum Historikerstreit von1986, den ein Artikel von Ernst Nolte in der FAZ auslöste. Reich-Ranicki wirft dem Berliner Historiker "pseudowissenschaftlichen Jargon" und "Absurdität der Gedanken" vor; Nolte sei eine "trübe, ja, verächtliche Figur". Daß hier nicht der Literaturkritiker spricht, sondern der Überlebende des Warschauer Ghettos, dessen Angehörige von den Nationalsozialisten umgebracht wurden, ist evident. Trotzdem kann ihm nicht entgangen sein, daß sich Noltes Thesen zur geschichtlichen Kausalität von Nationalsozialismus und Bolschewismus in der wissenschaftlichen Totalitarismusforschung längst Bahn gebrochen haben.

Aufschlußreich sind auch die Auslassungen in Reich-Ranickis Autobiographie. Wichtige Namen tauchen entweder nur am Rande auf oder fehlen ganz. So erwähnt Reich-Ranicki den renommiertesten und meistgespielten Dramatiker im deutschsprachigen Raum, Botho Strauß, mit keinem Wort. Hat der Großkritiker etwa nichts über das vielschichtige Werk des Dichters, Erzählers und Essayisten Strauß zu sagen? Immerhin hat er in der FAZ verschiedentlich Prosatexte von Botho Strauß ausführlich besprochen und gelobt ("Die Widmung", 1977) und selbst in seinen Verrissen noch Achtung vor Strauß‘ Sprachmächtigkeit erkennen lassen ("Der junge Mann", 1984). Die Vermutung liegt also nahe, daß es andere, nichtliterarische Motive gibt, die für Reich-Ranicki eine Rolle gespielt haben. Sollte er Strauß womöglich dessen Essay "Anschwellender Bocksgesang" (1993) nachtragen? Jenen furiosen Essay, in dem Strauß sich als rechtsintellektueller Denker der Gegenaufklärung präsentiert und die Phantasie des Verlustes beschwört. "Eine Phantasie also des Dichters, von Homer bis Hölderlin", wie Strauß schreibt.

Nur am Rande erwähnt Reich-Ranicki einen der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Über Ernst Jünger schreibt er knapp und bündig: "Aber ich erlaube mir in aller Bescheidenheit, doch nicht ohne leise Genugtuung darauf aufmerksam zu machen, daß ich einem berühmten, häufig bewunderten und gepriesenen deutschen Prosaschriftsteller keine einzige Kritik gewidmet habe. Ich meine Ernst Jünger. Sein Werk ist mir fremd. Ich fühlte mich berufen zu schweigen." Was meint er damit? Über Heinrich Böll, den er so verehrt, daß er ihn 1972 für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen hat, schreibt Reich-Ranicki, er halte von dessen Hauptwerken, den Romanen, nicht sehr viel. "Vorsichtiger ausgedrückt: Die meisten blieben mir fremd." Trotzdem hat sich Reich-Ranicki über Böll seit Ende der fünfziger Jahre die Finger wund geschrieben. Was also meint er mit dem Ausdruck "fremd"? Wie kann ein Œuvre, das sich wie im Fall von Jünger über 75 Jahre und verschiedene literarische Genres erstreckt, einem passionierten Büchernarr "fremd" bleiben? Das ist nun wirklich kaum zu glauben.

In seinem Buch "Marcel Reich-Ranicki. Eine Kritik" (1995) schreibt der Wiener Schriftsteller Franz Josef Czernin, es sei für Reich-Ranickis Literaturbegriff bezeichnend, welche Autoren er nicht rezensiert und wen er auch seit den fünfziger Jahren in seinen Bestandsaufnahmen jeweiliger Gegenwartsliteratur nicht erwähnt. Es seien, so Czernin, "natürlich zumeist jene Dichter, die ungewöhnlich schreiben, deren Abweichungen vom üblichen Sprachgebrauch ein bestimmtes Maß überschreiten".

"Ich habe den Verdacht", schreibt Czernin weiter, "Reich-Ranickis Kriterien für die Beurteilung von Literatur sind auch Symptom für unser aller Bequemlichkeit; für unsere Unfähigkeit oder Unwilligkeit, uns mit Texten zu befassen, die man entziffern muß. Nicht weil sie ein Bildungswissen voraussetzen, das wir nicht teilen, sondern weil sie uns zwingen, auf eine Weiese zu lesen, an die wir nicht gewöhnt sind, weil sie uns zwingen, unvorhergesehene Möglichkeiten des Lesens zu entfalten."

Daß Reich-Ranicki seine Schwierigkeiten mit Ernst Jünger hat, ist indes nicht neu. In einem Spiegel-Gespräch vom 2. Januar 1989 ("Ich habe manipuliert, selbstverständlich!") bekennt er, es gebe Autoren, "die mir, was nicht gegen ihre Bedeutung spricht, irgendwie zuwider waren. Ich möchte mich über die nicht äußern." Und auf die Frage, wen er zum Beispiel damit meine, antwortet er: "Ich habe nie im Leben eine Kritik über Ernst Jünger geschrieben. Das ist nicht meine Welt." Begründung: auch hier Fehlanzeige.

Da hilft auch nicht der Hinweis Reich-Ranickis, er habe immer dafür gesorgt, daß Autoren, über die er persönlich nicht schreibe, "von anderen, möglichst guten Kritikern besprochen werden". Das ist zwar wahr, erklärt aber nicht, warum er sich selbst stets verweigert hat.

Wie tief die Abneigung gegen Jünger bei Reich-Ranicki sitzen muß, zeigt auch ein Interview, das er im März 1983 der Frankfurter Sponti-Zeitschrift Pflasterstrand gegeben hat. Darin sagt er mit Blick auf die Verleihung des Goethepreises an Ernst Jünger im Jahr zuvor: "Wenn ich in der Goethepreis-Jury gewesen wäre, hätte ich, glaube ich, verhindert, daß Jünger diesen Preis erhält." Erklärung: Fehlanzeige.

Die Annahme ist sicher nicht falsch, daß es wiederum nichtliterarische Gründe sind, die zu der Ignoranz gegenüber Ernst Jünger und seinem Werk geführt haben. Von dem Dramatiker Heiner Müller stammt der auf Jünger gemünzte Satz, er könne nicht moralisch lesen, genausowenig wie er moralisch schreiben könne. Reich-Ranicki kann offenbar sowohl das eine wie das andere. Bei den Ansprüchen, die er an sich selbst stellt, ist das ein Armutszeugnis.

Literatur: Marcel Reich-Ranicki. Sein Leben in Bildern, herausgegeben von Frank Schirrmacher, DVA, Stuttgart/München 2000, 288 Seiten mit 286 Abb., geb., 49,80 Mark

Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. DVA, Stuttgart 1999, 566 Seiten, geb., 49,80 Mark

Ausstellung: "Marcel Reich-Ranicki – Sein Leben in Bildern" bis zum 2. Juli im Literaturhaus München, Salvatorplatz 1. 80333 München. Info: 089 / 29 19 34-0

Fernsehen: "Der Literaturpapst". Ein Porträt von Reinhold Jaretzky und Roger Willemsen am 2. Juni, 22.15 Uhr, im ZDF. Ab 1.50 Uhr folgt "Die große Marcel Reich-Ranicki-Nacht im ZDF", ein dreistündiges Potpourri aus seinem Fernsehleben.


 
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