© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/00 02. Juni 2000

 
Das wahre Gesicht des Sozialismus
In der Tradition der bolschewistischen Tscheka: Zum Tode des Stasi-Ministers Erich Mielke
Vera Lengsfeld

Verschlagenheit, die sich mit den Weihen der großen Weltrevolution umgab, durchzog Mielkes lange politische Existenz. Seine höhere rote Moral war das Gegenteil von Moral. Er war ein Schreibtischtäter. Seine ideologische Versessenheit, die Niedrigkeit seiner Mittel verrät viel über das System, dem er treu ergeben war.

Erich Mielke, ein Berliner Stellmachersohn, war in der kommunistischen Bewegung großgeworden. Das Gymnasium schaffte er nicht, richtig gearbeitet hat er nur kurze Zeit. Früh wurde er Meuchelmörder im "Parteiselbstschutz" der Kommunisten, erschoß 1931 zwei Polizeihauptleute – hinterrücks. Er floh nach Moskau, verfeinerte seine konspirativen Methoden, kam im stalinistischen Netz der Denunziation sehr gut zurecht. Er wurde nach Spanien geschickt, wo er im Bürgerkrieg im Hinterland gegen "Verräter" und "Abweichler" vorging. Offen an der Front kämpfte er nie. Seine weiteren Jahre bis 1945 in Belgien und Frankreich liegen im Dunkeln.

In der DDR stürzte er in den fünfziger Jahren seine Minister Zaiser und Wollweber mit, er war im Auftrag Moskaus maßgeblich am Sturz Ulbrichts und Honeckers beteiligt. Der aufgeblähte Apparat der DDR-Staatssicherheit war Mielkes Werk. Er errichtete ein Ministerium, das als "Schwert und Schild" ein dienendes Organ der SED war, mit mehr als 80.000 hauptamtlichen Mitarbeitern und 120.000 Spitzeln. Mielke war ein Täter, ein Schuldiger an den Katastrophen dieses Jahrhunderts. Doch fehlte ihm jede historische Größe. Wirklichen Haß aufzubringen, fällt sogar schwer. Feigheit und Hinterlist sind die Vokabeln, die sein Handeln am besten beschreiben. Sein Auftritt als Stasi-Minister vor der Volkskammer im November 1989 ("Ich liebe euch doch alle!") war lächerlich und entlarvend. Es ist im nachhinein peinlich, solchen Leuten ausgeliefert gewesen zu sein.

Heute wird Mielke zum Beschmutzer der "reinen Lehre" gemacht von jenen, die der Wirklichkeit des Sozialismus nicht ins Auge blicken wollen. Sogar seine ehemaligen Genossen wollen ihm das Grab auf dem "Sozialistenfriedhof" in Berlin-Friedrichsfelde verweigern: Denn dieses wäre eine ewige Erinnerung, daß eine Gesellschaft, die die Fratze MfS hervorgebracht hat, kein "menschliches Antlitz" haben kann. Mielke hat nicht, wie Gysi glauben machen will, einen "entscheidenden Beirag zum Scheitern des Sozialismus" geleistet, er ist keine "Verkörperung der Widersprüche der historischen Bewegung", in die Bisky ihn umfälschen will, nein, Mielke ist das wahre Gesicht des Sozialismus – und der ist zu Recht gescheitert.

Das perfide Spitzelsystem von Mielkes Stasi war nur die eine Seite der Medaille; die andere Seite hieß "operative Maßnahmen", "Zersetzung", gezielte Zerstörung von Familien, Berufskarrieren, Freundschaften, von Biographien. Und allein zwanzig vermutete Auftragsmorde der Stasi sind ungeklärt. Doch ist das nur die Spitze des Eisbergs. Mielke sah sein Ministerium in der Tradition der bolschewistischen Tscheka; der Massenmörder Feliks Dziersynski war sein Vorbild. Wer heute die DDR-Diktatur verniedlicht, sollte sich vorstellen, was passiert wäre, wenn Leute wie Mielke wirklich freie Hand gehabt hätten.

Am 4. November 1989 scheiterte auf dem Berliner Alexanderplatz der Versuch der Stasi, die friedliche Revolution in der DDR in andere Bahnen zu lenken. Auch der Versuch, die SED durch Namensänderung und sogenannte Reformer, von denen viele in Mielkes Akten als "inoffizielle Mitarbeiter" auftauchen, "demokratisch" anzupassen, ist jetzt beim PDS-Parteitag in Münster gescheitert. Mielke ist das Erlebnis auch dieses absehbaren Scheiterns nicht erspart geblieben.

Der Tod Mielkes lenkt den Blick auf die Versäumnisse in der politischen und juristischen Aufarbeitung der DDR-Diktatur. Nie wurde die Stasi als verbrecherische Organisation eingestuft, sie wurde der Milde des Rechtsstaates überantwortet. Mielke, der "verdiente Jurist der DDR", entzog sich seiner Strafe durch "Verhandlungsunfähigkeit". Nur wenige Täter sind strafrechtlich belangt worden. Zwar leiteten die Ermittler seit 1991 rund 22.500 Verfahren gegen einst Mächtige des SED-Staates, gegen Mauerschützen und rote Wende-Abzocker ein. Aber in nur wenig mehr als 200 Fällen führte das auch zu Verurteilungen, fast immer zu Bewährungsstrafen. Die Verfolgungsbehören waren nie angemessen ausgestattet. Das Rückwirkungsverbot, wonach Menschenrechtsverletzungen nur geahndet werden können, wenn sie nach DDR-Recht strafbar waren, hat jede ernstliche Strafverfolgung von vornherein ausgeschlossen.

 

Vera Lengsfeld, geboren in Sangershausen, aufgewachsen in Berlin, seit 1981 in der Bürgerrechts-Bewegung der DDR aktiv, 1988 Verhaftung und Verurteilung wegen versuchter "Zusammenrottung", Abschiebung nach England, 1989 Rückkehr in die DDR, 1990 MdB der FraktionBündnis 90/Die Grünen. Heute ist sie CDU-Bundestagsabgeordnete.


 
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