© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/00 02. Juni 2000

 
Die neue Breschnew-Doktrin
von Andreas Razumovsky

Am 6. November 1956 starb der jugoslawische Diplomat Dimiter Milowanow durch einen Kopfschuß, der ihn durch das reifbezogene Fenster seiner Kanzlei in der Budapester Botschaft seines Landes traf: Im Verfolg der verräterischen und chaotischen Niederschlagung der ungarischen "Konterrevolution" hatte ein Scharfschütze des KGB-Generals Serow zu Beginn der gegen alle Absprachen erfolgten zweiten sowjetischen Stadtbesetzung in einem T 54-Panzer gelauert. Sein Auftrag lautete, Imre Nagy zu erschießen, den ungarischen Ministerpräsidenten und KP-Chef, der zwar als solcher von Moskau soeben erst im Amt bestätigt worden war, aber wohlweislich vor den sowjetischen Häschern in der exterritorialen Botschaft seines angeblichen Vorbildes Tito um Asyl gefleht hatte, zu erschießen. Zu seinem Pech, berichtet der damalige Polizeichef von Budapest, Kopácsi, habe dieser pyknische Mazedonier Milowanow dem "bäuerlich-runden" ungarischen Parteirebellen, dem unbeugsamen Altmarxisten/Leninisten (und in Moskau wegen seiner vermuteten Teilnahme an der Ermordung der Zarenfamilie auch unter Kommunisten wenig geachteten) Nagy allzu ähnlich gesehen.

Ich schlage vor, den so unschuldigen Märtyrer Milowanow als Symbolfigur zu sehen für die länger- und kürzerfristige Vergeblichkeit allen gewalttätigen politischen Bemühens. Sein absurder Tod fällt genau zusammen mit dem Wende- und Scheitelpunkt des an Brutaliät kaum zu überbietenden Machtkampfes zwischen den beiden großen Paten innerhalb des "sozialistischen Lagers", Chruschtschow und Tito, die ja ihrerseits im verbrecherischen Format vergleichsweise nur kleinere Erben der beiden inter-nationalsozialistischen Vorgänger und Konkurrenten im Unternehmen Massenmord gewesen sind.

Scheitelpunkt, weil bis 1956 die beiden verfeindeten Staatschefs mit subjektivem Optimismus und objektiv durchaus vertretbaren Chancen zuversichtlich gewesen waren, jeweils ihre imperialen Visionen zu verwirklichen: Chruschtschow hatte sich bis dahin, in der Nachfolge des grobschlächtigen Stalin, als relativ "liberaler" und populären Reformen zugeneigter Zar gesehen. Und als Hüter einer allumfassenden, das gesamte, dem Kommunismus schon zugehörige Europa einschließlich der abtrünnigen Verräter Jugoslawien und Albanien, integrierenden Pax Sovietica. Zu dieser hätten selbstverständlich die unsicher gewordenen asiatischen Kolonien, eisern solidarisch-leninistisch zurückgekehrt unter Moskaus Führung, gehört. Tito wiederum vertraute, keineswegs ohne kühnes, aber vernünftiges Kalkül, auf die verheerende, den Haß auf die russischen Unterdrücker im ganzen Ostblock anfachende Wirkung der "entstalinisierenden" Rede des Sowjetdikators auf dem "XXten Parteitag" vom Februar des gleichen Jahres. Der Belgrader "Marschall" wurde bei den Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn, vor allem von jeweils der Intelligentzija, den Literaten, Marxismus-Predigern, den Gelehrten des dialektischen Materialismus und Philosophen, für einen Helden des antisowjetischen Widerstandes gehalten, für einen "Reformer" und "Demokratisierer". Wie wir heute genauer wissen als damals, hat Tito sich bis zum November 1956 seinem großen Szenario eines "Sozialistischen Commonwealth" so nahe gesehen wie nie zuvor. Es hätte unter seiner Führung all die vom Sowjetsystem unterdrückten, aber mit den Errungenschaften "der Revolution" schon gesegneten europäischen Nationen zusammengeschlossen.

 

"Im Herbst 1956, nach Ungarns "Befriedung", konnten Chruschtschow und Tito zuversichtlich sein, die imperialen Visionen des Kommunismus zu verwirklichen: die Pax Sovietica und den ‘Sozialistischen Commonwealth‘."

 

Ich plädiere also dafür, dem unbekannten (denn außer seinem Namen ist nichts über ihn überliefert) Diplomaten Milowanow ein Mahnmal zur Warnung vor der Stupidität aller der eigenen Zukunftsplanung nicht gewachsenen und mit nicht adäquaten Mitteln verteidigten Herrschaftssysteme zu setzen. Als idealen Platz schlage ich den AVALA- Hügel im Süden Belgrads vor, wo seit 1934 auf Anordnung des reaktionären Königs Alexander das bombastische Monument des Bildhauers Mestrovic das serbische Heldentum – Cojsdvo i Junacstvo – rühmt. Wir können Milowanow bedauernd feiern als einen bis in seine letzte Lebenssekunde des historischen Vorganges nicht gewahren "Blutzeugen" der zuletzt unfehlbar immer die eigenen Sache vernichtenden Brutaliät des nationalen und internationalen "Sozialismus" – auch in all seinen moderneren Varianten. Ich könnte mir dies Denkmal vorstellen, geschmückt mit allegorischen Figuren des servilen Verrates, der Heimtücke, der kriecherischen Anbetung der Macht – und verziert mit Porträts einer beliebigen Anzahl konkreter Prominenter aus dem Geistesleben aller Nationen,vor allem auch dem "freien Westen", die sich zu solcherart Ritualen des Konformismus hergegeben haben und dies auch weiterhin tun.

Als Wendepunkt wäre jener 6. November auf der Granitplatte des Monumentes eingemeißelt: als solcher hat er jeweils für die Bedeutung und die Machtentfaltung Chrutschows und Titos gewirkt, wie sich recht bald herausgestellt hat. Beide hat die von der Paranoia aller totalen Herrscher gefärbte Angst zu fürchterlichen, den eigenen Interessen kontraproduktiven Maßnahmen, vor allem zur Akkumulation ungeheurer Verrätereien verleiten lassen. Und das hat die katastrophalen Einbrüche in ihren eigenen Sphären nur beschleunigt, niemals jedenfalls verhindert. Chruschtschow hat die Absurdität der Berliner Mauer und die demütigende Blamage der Kuba-Krise zu verantworten gehabt; zuletzt ist er schmählich, hinterrücks abgesetzt und hinausgeworfen worden, sogar aus der Partei. Verbürgt ist die Kunde, er habe sich im August 1968, damals schon seit vier Jahren eine "Unperson", in den Kreml chauffieren lassen, um die Ex-Genossen Nachfolger davor zu warnen – vergeblich, denn die Torhüter Breschnjews hielten sich an den Befehl, ihn nicht vorzulassen – mit einer militärischen Intervention den "Prager Frühling" niederschlagen zu wollen.

Tito wiederum ist es zwar gelungen, woran er bis zuletzt gezweifelt hatte, als alter Mann im Bett zu sterben. Bis dahin hatte er sich, wie alle paranoischen Alleinherrscher, mit ungeheuren Sicherheitsvorkehrungen abgeschirmt. Kurz zuvor hatte er sich aber doch noch von einer vom KGB aus Moskau gesteuerten Verschwörung sowjettreuer Kommunisten bedroht gefühlt. Den einen oder anderen der sowjetischen Drahtzieher ("Journalisten") habe ich bei ihren unregelmäßigen Aufenthalten in Belgrad erlebt. Die illegal eingewanderten "Stalinisten", meist greise Altpartisanen und todesverachtende Revolutionswürdenträger, hatten sich konspirativ in der montenegrinischen Hafenstadt Bar versammelt. Da aber die UDBA (das Tito’sche Gegenstück zum KGB) gerade so gut wie ihr russisches Lehr- und Gegenstück funktionierte und reagierte, sind dann auch noch die letzten aufrecht moskautreuen Marxisten/Leninisten Jugoslawiens, deren um "brüderliche Hilfe" rufende Appelle an die Große Schutzmacht einen Applikationsfall für die Breschnjew-Doktrin hätten abgeben sollen, festgesetzt und umgebracht worden.

Die Furcht vor einer solchen sozialistisch-solidarischen Hilfe nach bewährtem Muster hat in Jugoslawien denn auch noch Jahre nach Titos Tod das politische Leben gelähmt. Man hatte dort immer noch die drittstärkste Armee Europas unter Waffen, die sich später von Slowenien bis zum Kosovo bewähren durfte. Erst 1989, als Aussenminister Schewardnaze in einem Time-Interview erklärte, er könne sich kein Szenario (mehr) vorstellen, das zur Rettung des "Sozialismus" eine Intervention der Sowjetarmee erforderlich machte, konnte das doch für die Ewigkeit erbaute Werk des "Letzten Habsburgers", des zu Lebzeiten zur nationalen Gottheit erhobenen "Präsidenten des Präsidiums auf Lebenszeit", in einer längst fälligen, zäh verzögerten Explosion in die Luft fliegen. Es war dieses Lebenswerk nichts anderes gewesen als der zweite Versuch, die angeblich einander liebenden südslawischen Völker unter ein Dach zu zwingen. Was aber die nach 1918 etablierte, brutale Diktatur des serbischen Königshauses der Karadjorjevic nicht zustande gebracht hatte, konnte dem Terror der kommunistischen Mafia Titos, der als Agent der Komintern Stalins zur Herrschaft kam, erst recht nicht gelingen.

Dieser Tag des 6. November 1956, den wir als Scheitel- und Wendepunkt im blutigen Duell zwischen dem Moskauer und dem Belgrader Padrone erkannt haben, ist auch die Geburtsstunde der erst später so genannten "Bresch- new-Doktrin". Genau an diesem Tag hat ein noch Jahre danach geheimgehaltener Blitzbesuch Chruschtschows bei Tito auf dessen privater Adriainsel Brioni stattgefunden. In allerengstem Kreis. Dort hatte man sich, über alle Gegensätze hinweg, zu einer fundamentalen Übereinkunft durchgerungen: es dürfe, unter welchen Umständen auch immer, niemals geschehen, daß die "Errungenschaften der Revolution" durch eine ohnehin allenfalls durch ein "Komplott vom imperialistischen, faschistischen Ausland" vorstellbare Konterrevolution – wie sie in Ungarn versucht wurde – in Frage gestellt, gar gefährdet werden. Tito hat damals eingewilligt, daß der sich auf ihn bis zuletzt berufende Imre Nagy aus seiner Budapester Botschaft (unter Zusage "freien Geleites") hinauskomplimentiert und später, gemeinsam mit seinen konterrevolutionären Spießgesellen, unter sowjetischer Oberaufsicht, gehenkt werden dürfe. Für dieses Zugeständnis habe er sich, wie der damals mitkomplottierende serbische Diplomat Micunovic bezeugt, das nochmalige feierliche, und kurzfristig auch eingehaltene Versprechen des Kremlherren eingehandelt, seinen, spezifisch jugoslawischen "Weg zum Sozialismus" als einen ebenfalls leninistisch-revolutionären, und daher in der gesamten dem Kommunismus entgegenmarschierenden Welt urbi et orbi als zumindest tolerierbar anzuerkennen.

Auf diesem Kompromiß-Abkommen des gemeinsam ausgeheckten Verrates erwuchs denn auch die künftige Haltung des "fortschrittlichen" Lagers in allen gerade noch akzeptablen Varianten gegenüber der "reaktionären", "kapitalistischen" und immer auch "faschistischen" Gegenwelt. Es beinhaltete die klare, nun endgültig nicht mehr auf die "Weltrevolution" eingeschworene, wohl aber radikal defensive Doktrin, daß es das unverrückbare Recht und die Pflicht jener Nationen sei, die schon auf der höheren "gesellschaftlichen" Stufe des Sozialismus ständen, mit erhöhter Wachsamkeit darauf zu achten, daß keiner unter ihnen, etwa durch den Einfluß auswärtig feindlichen "faschistischen" Agitierens und Unterminierens, aus der durch "die Revolution" erreichten Gemeinschaft austreten dürfe oder könne. Schon der bloße Gedanke daran, geschweige denn subversiv diesbezüglich gehegte Pläne, waren und blieben, als Verbrechen und Hochverrat an den von Marx und Lenin festgelegten Prinzipien des "Proletarischen Internationalismus", mit dem Tode zu ahnden.

Wie sehr sich auch die westeuropäischen "progressiven Kräfte", und die hier den Ton angebenden linken Intellektuellen von solchem grauslichem Stuß haben faszinieren lassen, ist so manches Mal (zum Beispiel von Jean François Revel "Die Herrschaft der Lüge") analysiert worden. Diese "progressiven" Literaten und Künstler, von Jean-Paul Sartre und André Malraux bis Ernst Fischer und leider auch Herbert Marcuse und Ernst Bloch (ubi Lenin ibi patria), bekommen auf meinem Monument des Märtyrers Milowanow für die geballte Idiotie ihrer ideologischen Verblendung Ehrenplätze.

 

"Daß man eine zivil verbürgerlichte Breschnew-Doktrin mit weniger drakonischen, doch wirksamen Mitteln anwenden kann, zeigt der gegenwärtige Feldzug der Sanktionen der 14 EU-Regierungen gegen Österreich."

 

Eine ganze Reihe der Granitstelen auf der Belgrader AVALA wird ihnen gewidmet sein wie auch den naiven opinion leaders aus der Sozialistischen Internationale. Das waren und sind Leute, die niemals den Einsatz von Gewalt gefordert oder angeordnet, wohl aber mitunter, wenn der "Geist der Geschichte" es heischte, gerechtfertigt haben. Auch sie waren immer und bleiben entschlossen, die Herrschaft ihres spezifischen "Weges zum Sozialismus" zu verteidigen. Daß man eine zivil verbürgerlichte "Breschnew-Doktrin" mit weniger drakonischen, doch möglichst wirksamen Mitteln anwenden kann, zeigt und läßt sich zweifelnd erörtern, am gegenwärtigen Feldzug der Sanktionen der angeblich ebenfalls wieder "solidarisch" auftretenden, jedenfalls die Solidarität ohne Wenn und Aber postulierenden 14 EU-Regierungen: in ihrem antifaschistischen Kampf gegen die wackeren, auch diesmal wieder roh aus der Idylle ihrer Insel der Seligkeit geschreckten Österreicher.

Der Vorgang dieser "kollektiven Maßnahmen gegen einen Friedensstörer", wie es die Vereinten Nationen gesetzlich etwa für das ungezogene Verhalten der Serben in Bosnien definieren, innerhalb der Europäischen Union, ist natürlich, weil bisher unbekannt, bemerkenswert. Auf die Dauer wohl mehr für Völkerrechtler und Zeithistoriker. Wir können uns mit dem freilich abgedroschenen Marx’schen Wort von der als Farce wiederkehrenden Tragödie aushelfen: wie wirksam sich die Strafmaßnahmen herausstellen werden, wieviel Schaden sie Österreich, spezifisch der SPÖ und der EU selbst einbringen werden, und wieviel Nutzen der allgemein als Betreiber angenommenen "Vierten Sozialistischen Internationale", wird sich erst später herausstellen. Bisher, da die Solidarität aller antifaschistischen und antirassistischen Kräfte ohne den Nachdruck auskommen muß, den eine halbe Million Soldaten des Warschauer Paktes nun einmal verliehen, und sie auf die Möglichkeiten ungehemmter Agitation beschränkt bleibt, sieht es für deren Sache schlecht aus. Die "Solidarität", mangels wirksamerer Mittel auf das Verweigern oder Zulassen von Gruppenbild mit Dame wie das Verweigern oder Annehmen von Einladungen zu Aussprachen reduziert, ward bröckelig, ehe ihre Reihen noch dicht geschlossen waren. Was 1987 ff. der vereinten Medienwelt in der Waldheim-Affäre noch bequem gelang, über ihr Echo im Ausland "Salems Hexenjagd und McCarthys Hatz in Österreich wieder aufgelebt" haben zu lassen, um "einen internationalen Skandal herbeizubrüllen" und die Österreicher der Welt als "ein Volk der Ewiggestrigen vorzuführen, das Juden verfolgt und in dem bis heute Hitlers Ungeist in den Herzen der Menschen lebt" (Hofbauer), bleibt diesmal problematisch und auf die Dauer wohl niemandem bekömmlich. Hier wirkt der Verdacht als Sand im Mediengetriebe, jener Verdacht verächtlichen Intrigierens, der auch gegen alle etwas mühsamen Dementis aufgekommen ist, daß Ex-Kanzler Klima und Bundespräsident Klestil, wie es die Regierungschefs von Finnland und Dänemark versichert haben, die Lawine der Sanktionen überhaupt erst lostraten, ja sie anforderten.

Derzeit sehen wir die, welche die neue Lawine auslösten, sich in der Rolle des Nachsuchkommandos durch den Schnee mühen. Laßt ihre Hunde buddeln! Auch den Wiener Bürgermeister Häupl, der in seiner 1. Mai-Ansprache, ganz im klassenkämpferisch-austro marxistischen Jargon der zwanziger Jahre versprach, "diese Regierung aus den Ämtern zu jagen". Wäre es dem Frieden Österreichs und Europas bekömmlich, wenn es ihm und den seiner Partei angehörigen und hörigen Journalisten passierte, eines Tages in eine Reihe gestellt zu werden mit jenen Prager Funktionären, nennen wir Bilak und Karel Hoffmann für alle, die 1968 die brüderliche Hilfe des Proletarischen Internationalismus angefordert haben?

 

Andreas Graf Razumovsky arbeitete für die Frankfurter Allgemeine von 1956 bis 1988 als Auslandskorrespondent u.a. in Holland und Südafrika. Von 1988 bis 1996 berichtete der in Mähren geborene Autor aus Österreich.


 
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